Oszillierende (Alb-)Traumwelten

Der End­spurt hat begon­nen am Frei­tag­abend bei Uni­dram. Und was für einer: Das Fes­ti­val war­te­te am vier­ten Tag mit neun Vor­stel­lun­gen in fünf Stun­den auf. Nach dem Per­for­mance-Mara­thon vom Vor­tag – das  tsche­chi­sche Vater-Sohn-Dra­ma wirk­te immer noch nach – war eigent­lich nicht mehr viel Platz für wei­te­re Bil­der und noch mehr auf­wüh­len­de Emotionen.

Von denen jedoch schon die Vor­stel­lung "Depar­tu­re" von Kal­le Nio jede Men­ge in einem nahe­zu mono­chrom grau gehal­te­nen Paar­dra­ma bot. Das Wort "Depar­tu­re" hat neben Abrei­se 14 wei­te­re Bedeu­tun­gen – und neben den vie­len Auf­brü­chen und Aus­zü­gen war an einen (Neu-)Anfang zwi­schen die­sen bei­den Men­schen kaum zu denken.

Verblüffende Bilder des Nicht-Zusammenkommen-Könnens

Doch die Unver­wech­sel­bar­keit der künst­le­ri­schen Hand­schrift von Kal­le Nio, die sich in einem unge­heu­ren Reich­tum an ver­blüf­fen­den Bil­dern für das Nicht-Zusam­men-Kom­men-Kön­nen spie­gel­te, zog  einen sofort in den Bann. Die magi­schen Fähig­kei­ten des fin­ni­schen Künst­ler­kol­lek­tivs taten dabei ihr Übriges.

Kal­le Nio, Departure/Foto: Tom Hakala

Da ent­wi­ckel­ten graue Män­tel ein wun­der­sa­mes Dop­pel­le­ben, Tisch­de­cken tropf­ten in zähen grau­en Fäden auf den Boden und glä­ser­ne Wän­de ver­än­der­ten wie von Zau­ber­hand ihre ange­stamm­te Posi­ti­on. Und selbst für ein befrei­en­des Lachen war Platz: Die Bügel­ak­ti­on mit dem ein­zig quick­le­ben­di­gen Ober­hemd sorg­te dafür.

Tänzerische Intensität, Sinnlichkeit und Poesie

Nicht nur humor­voll ging es auch im nach­fol­gen­den Tanz­thea­ter­stück "Koko­ro" von Lali Aygua­de aus Spa­ni­en zu. In einem ima­gi­nä­ren Kir­chen­raum tra­fen dort zufäl­lig drei Män­ner und eine Frau zusam­men, die mit gro­ßer Inten­si­tät, Sinn­lich­keit und Poe­sie Bezie­hungs­kon­stel­la­tio­nen, Macht­fra­gen und Lebens­ab­schnit­te auf den Punkt brachten.

Lali-Aygua­dé, Kokoro/Foto: Edu Pérez

Beson­ders ein­dring­lich die Schluss­sze­nen, in denen Anna Cal­si­na For­rel­lad wie im Zeit­raf­fer die Lebens­pha­sen einer Frau durch­lebt und gera­de noch in der Blü­te ihres Lebens ste­hend, als Grei­sin ein­sam in einem Ses­sel ihr Leben aushaucht.

Albtraumhafte Berge von Toten 

Um die kol­lek­ti­ve Erin­ne­rung an das mas­sen­haf­te Mor­den und Ster­ben des 2. Welt­krie­ges ging es in der Objekt­thea­ter-Instal­la­ti­on "Roth­ko Cha­pel" des israe­li­schen Regis­seurs und Dar­stel­lers Sja­ron Minai­lo. Inspi­riert von Bil­dern Mark Roth­kos und der Musik Mor­ton Feld­manns, die sich bei­de mit der künst­le­ri­schen Dar­stel­lung des Holo­caust befass­ten, ent­wi­ckelt Minai­lo eine ein­dring­li­che Instal­la­ti­on, die das heu­ti­ge Publi­kum mit dem Phä­no­men des Ver­ges­sens konfrontiert.

Fei­kes Huis Sja­ron Minai­lo, Roth­ko Chapel/Foto: Saris & den Engelsman

Nur sche­men­haft kann man sehen bezie­hungs­wei­se mit dem (noch) vor­han­de­nen Hin­ter­grund­wis­sen erah­nen, was der Künst­ler hin­ter den drei far­big-oszil­lie­ren­den Licht­zel­len bewegt. Men­schen­ket­ten, die an Weih­nachts­baum­be­leuch­tung erin­nern, Spiel­zeug­au­tos, aus denen mas­sen­haft Lei­chen rut­schen oder Mess­schie­ber, mit denen er nach der Ras­sen­ideo­lo­gie der Nazis lang­sam sein Gesicht vermisst.

"After every war someone has to clean up", steht am Ende wie ein Mene­te­kel an der wei­ßen Wand. Und Minai­lo ver­teilt noch das Gedicht "The End and the Begin­nung" von Wisła­wa Szym­borska, die dar­in – neben aller Geschäf­tig­keit – das kon­tem­pla­ti­ve Erin­nern einfordert.

Astrid Priebs-Trö­ger

04. November 2017 von admin
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