Zerrissene Übergangsgesellschaft
Der gesellschaftliche Fortschritt ist eine Schnecke und viele Menschen tun sich schwer mit Veränderungen. Dies wird auch in der 1888 entstandenen Storm-Novelle "Der Schimmelreiter" thematisiert, die in einer Bühnenfassung von Katrin Plötner und auch unter der Regie der 34-jährigen Berlinerin am Hans Otto Theater zur Aufführung kam.
Und das ist wirklich ein Fortschritt, dass unter der Intendanz von Bettina Jahnke Frauen paritätisch auf der großen Bühne inszenieren. Auch der Brandenburger Landtag hat gerade ein Paritätsgesetz verabschiedet – 100 Jahre nach Erlangung des Frauenwahlrechts.
Menschen brauchen Visionen
An diesen Beispielen wird klar: Menschen brauchen Visionen für die Zukunft und Verbündete, diese durchzusetzen. Beim Frauenwahlrecht genauso wie bei neuen Methoden des Deichbaus. Hauke Haien, die Hauptfigur des Schimmelreiters, hat eine solche Zukunftsvorstellung: er will einen Deich bauen, der nicht nur zwei Generationen, sondern mindestens ein Jahrhundert hält. Das ist an sich eine gute Idee, doch wie kann ein landarmer Knecht es wagen, so groß zu denken?
Die Geschichte des Schimmelreiters spielt in einer zerrissenen Übergangsgesellschaft, die der gegenwärtigen in manchem gleicht: Industrie und Wissenschaft entwickeln sich rasant, doch die gesellschaftlichen Verhältnisse hinken hinterher. Hauke Haien ist ein Autodidakt mit einer mathematischen Inselbegabung und dem festen Willen, mit dieser den Deichbau zu revolutionieren. Das kommt nicht gut an in einer ländlich-rückständigen Region, in der sich die meisten über ihren (Nicht-)Besitz an Land und der Zugehörigkeit zum christlichen Glauben definieren.
"Achse des Guten"
Außer Elke, der Tochter des amtierenden Deichgrafs, die eine moderne, selbstständig denkende Frau ist und die besonderen Fähigkeiten Hauke Haiens erkennt. Diese beiden bilden in Katrin Plötners facettenreicher Inszenierung eine "Achse des Guten" – sie praktizieren unabhängiges Denken und schätzen die Werte der Aufklärung. Und sie schaffen es in einem starken Spannungsbogen, einander ihre Zuneigung zu zeigen, diese zu nähren, zu halten und bis zum Ende zu verteidigen.
Großartig, wie bei den zwei schmallippigen Friesen, die von Guido Lambrecht und Kristin Muthwill verkörpert werden, der Panzer aus Sprödigkeit immer mehr Risse bekommt und beide zu echter Intimität finden, die alle Emotionen füreinander mit einschließt. Schon dafür hat es sich gelohnt, die Inszenierung von Katrin Plötner anzusehen, die dies schlaglichtartig erzählt. Und – um die auch schauspielerisch beeindruckende – Entwicklung mitzuerleben, die Hauke Haien vom verschlossenen Jungen zum herausfordernd-leuchtenden Deichgrafen vollzieht. Bereits das Anfangsbild ist klasse.
Soziale Aufsteiger und ihre Ideen verhindern
Auf dem grauen Halbkreis, der so schräg wie ein Deich raumgreifend auf die Bühne von Camilla Hägebarth gebaut ist, bewegt sich ein Mensch. Er rennt – fast wie Sisyphos – immer wieder von unten nach oben, hinauf auf die Deichkrone. Hält dort kurz Ausschau, um dann zusammenzusacken und (anfangs) übermütig wie ein Kind nach unten zu rollen. Doch je öfter er diesen Vorgang wiederholt, umso hölzerner werden seine Bewegungen, bis er schließlich gekrümmt liegen bliebt. Ein Bild, das menschliches Leben fasst und durch die zwei Erzähler kommentiert wird: "Jeder Mensch ist nur ein kleines Sandkorn in der Welt." Und trotz oder gerade wegen dieses erzählerischen Fatalismus rennt Hauke Haien – und auch wir rennen an diesem vorwiegend düster-dichten Abend mit ihm.
Sein Gegenspieler Ole Peters, der – in der Regieführung ein wenig zu simpel – selbstsicher, laut und fett, von René Schwittay verkörpert wird, hat es nicht nötig, für den Fortschritt zu rennen. Er hat genug "Klei unter den Füßen" und glaubt, dass ihm das Amt des Deichgrafen quasi von Natur aus zusteht. Als er sich darin getäuscht sieht, tut er alles, um den "Aufsteiger" und seine Ideen zu verhindern.
Vor allem sucht er Verbündete, die wie er, Furcht vor (sozialen) Veränderungen haben und sich ans Althergebrachte – Glauben und Aberglauben – und vor allem an patriarchalische Strukturen klammern. Die findet er bald in allen sozialen Schichten des Dorfes und in sogenannten Konventikeln. Heimlichen Vereinigungen weniger Gleichgesinnter, die sich in Bürgerwehren organisieren und des Nachts mit Fackeln und – den heutigen Fake News vergleichbaren – Geschichten durchs Land ziehen. An der Spitze Moritz von Treuenfels als äußerlich smarter und innerlich militanter Oberdeichgraf.
Jede Gesellschaft braucht Utopien
Und die dann im Dunkeln oben auf dem Deich stehen und im Fackellicht "Wanke nicht mein Vaterland" singen. Bedrückend und erhellend zugleich, wie sich Bilder und Zeitläufe gleichen können. Katrin Plötner seziert diesen dörflichen Mikrokosmos. Und sie zeigt, dass sich Ideen nur materialisieren lassen, wenn sich genügend Menschen finden, die diese unterstützen. Plötner zeigt aber auch, dass es wichtig ist, überhaupt alternative Ideen zu entwickeln, damit sich Gesellschaften insgesamt weiterentwickeln können.
Das meint auch das starke Schlussbild. Hauke und Elke werden von der angstvoll wütenden Meute auf die Deichkrone gehetzt. Doch dieses Paar leuchtet genau in diesem Moment am stärksten. Plötner feiert sie damit nicht als Opfer, sondern als Protagonisten einer Zukunftsvision. Und eine solche hat auch die gegenwärtige Gesellschaft bitter nötig, um beispielsweise nicht in den aufsteigenden Fluten des Klimawandels zu versinken.
Astrid Priebs-Tröger