(S)einem Fluss begegnen
Es passiert nicht oft, dass man als Teil eines Kunstprojekts über einen Fluss gerudert wird. In der Performance "Floating Listening" von Clément Layes ist genau dies der Fall.
Der Feierabendverkehr fließt noch hektisch über die Potsdamer Friedrich-Engels-Straße, als ich wie vereinbart an der Brücke über die Nuthe ankomme. Der schmale Fluss darunter ist von der Straße aus kaum zu sehen.
Über einige Treppenstufen gelangen wir zum Ruderboot, das der Performer und Choreograf Clément Layes dort unten vertäut hat. Schon hier ist vom oberirdisch-lauten Verkehrsfluss kaum noch etwas zu spüren.
Stattdessen bilden hohe Bäume über uns ein grünes Dach. Als erstes gleiten wir durch sämtliche Straßen- und Eisenbahnbrücken, die die Nuthe hier eng und dunkel über mehr als hundert Meter überspannen. Das fühlt sich beinahe so an wie eine Fahrt auf Charons Nachen in die Unterwelt.
Zum Glück bleiben wir nicht dort stecken und nach einigen Minuten gleiten wir unter dem sich jetzt öffnenden Laubdach und dem wieder sichtbaren blauen Himmel auf dem ruhigen Gewässer dahin.
Vögel zwitschern, Fische springen, junge Enten schwimmen. Stille und Sorglosigkeit gewinnen allmählich die Oberhand und mein Körper, der sich anfangs noch ungelenk und steif auf dem schaukelnden Boot anfühlte, entspannt sich merklich und passt sich dem sanften Rhythmus der Wellen- und Ruderbewegungen an.
So eine Art von Entspannung suchte Clément Layes vor zwei Jahren, als 2020 seine Mutter starb, und er das Gefühl hatte, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Layes unternahm immer wieder lange Bootsfahrten mit seinem DDR-Ruderboot und lud auch Freunde dazu ein, die wie er lernen mussten, mit Verlusterfahrungen umzugehen.
Daraus entstand die Idee für die Fluss-/Schwebendes Zuhören-Performance. Letzteres ist ein Begriff aus der Psychoanalyse und beschreibt eine Therapeut:innenhaltung, die nicht nur die rationale Ebene anspricht.
In der Fluss-Performance geht es jedoch nicht um eine Therapie, sie ist stattdessen eine Einladung, dem Fluss und damit (auch) sich selbst zu begegnen. Mehrmals setzt man sich dabei Kopfhörer auf die Ohren und hört z. B. Gitarren-Musik oder poetische (Lied-)Texte, die u. a. Fließen, Träumen, Leben und Sterben thematisieren.
Und wenn man dabei die Augen schließt und irgendwann aufhört, die immer mal sichtbaren Gebäude am Ufer zuzuordnen, kommt man allmählich in seinen ganz eigenen Flow. Der mich u. a. in meine Kindheit zurückbrachte, in der ich meinen Vater manchmal zum Angeln begleiten aber währenddessen stundenlang kein Wort mit ihm reden durfte.
Mit "Floating Listening" war Clément Layes jetzt bei Dance in Residence Brandenburg in der fabrik Potsdam zu Gast. Gemeinsam mit Johanna Ackva erarbeitete er in Potsdam eine deutsche Fassung dafür; bisher war das Projekt in Berlin nur in Englisch bzw. Türkisch zu erleben.
Während der Residenz, in der er im Potsdamer Schlaatz wohnte, führte er außerdem einen Projekt-Workshop mit Geflüchteten durch, die er jedoch nicht mit dem schaukelndem Boot sondern mit Wiegenliedern konfrontierte.
Für mich bleiben als Erfahrungen von "Floating Listening" vor allem dieser wunderbare, beinahe magische Fluss in der immer stärker zugebauten Stadt und das tiefe Gefühl haften, das mit so einem sensiblen Begleiter im Rücken (beinahe) jeder Strom leicht zu durchqueren ist.
Astrid Priebs-Tröger
Die Performance "The River" ist bis 30. September 2022 täglich einmal für jeweils eine Person in Berlin/Stralau zu erleben. Außer Clément Layes rudern Asaf Aharonson, Zinzi Buchanan, Shannon Cooney und Thiago Rosa.
Die Arbeit an diesem Artikel wurde "gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien im Programm NEUSTART KULTUR, [Hilfsprogramm DIS-TANZEN/ tanz:digital/ DIS-TANZ-START] des Dachverband Tanz Deutschland."