Neue Welten
Manch einer glaubte wahrscheinlich, seinen Augen nicht zu trauen, als er das fünfte Konzert der diesjährigen Potsdamer Vocalise in der Erlöserkirche besuchte. Denn da stand im Allerheiligsten, direkt unter dem goldenen Sternenhimmel der Apsis ein klobiges weißes Zelt.
Und klar, in diesen Zeiten konnte man die mobile Behausung wohl nur als Unterkunft für Geflüchtete deuten, zumal einige Wäschestücke auf einer Leine dies nahelegten. Aber warum stand dieses profane Zelt nun im Altarraum und ausgerechnet unter dem edelsteinbesetzen Heiligen Kreuz der Erlösergemeinde?
"Neue Welten" war das Konzert mit Werken von Kurt Weill, Astor Piazzolla, Darius Milhaud und Aaron Copland überschrieben. Und die Potsdamer Performance-Künstlerin Annette Paul hatte gemeinsam mit dem künstlerischen Leiter Ud Joffe die Idee, asylsuchende Menschen einzuladen, um eine Szenografie zu Milhauds "Erschaffung der Welt" – Ballettmusik zu entwickeln.
Ola und Abdullah, zwei junge syrische Designer, die seit einem Jahr in Potsdam leben, machten sich mit Annette Paul zusammen ans Werk. Während des Konzerts projizierten sie im Rhythmus der Musik mit schwarzen Filzstiften ihre ganz persönliche Schöpfungsgeschichte an die Giebelseite des Zeltes.
Aus vielen Symbolen, Kringeln und Spiralen, die sich immer dichter übereinander lagerten, entstand anfangs nur dunkles Chaos. Später waren majestätische Berge und kurz darauf Bäume, die ersten Schmetterlinge und Vögel zu sehen.
Und auch Menschen erschienen. Doch nicht – wie im christlichen Mythos – klar nach Geschlechtern unterschieden und erkennbar. Sondern zwei massive schwarze Köpfe trafen da aufeinander – vor einer äußerst zerbrechlich wirkenden Welt.
Dieses Bild hinterließ neben dem Auftritt von Ola und Abdullah den stärksten Eindruck der Szenografie und des gesamten Abends. Denn wie sie da zusammen mit Annette Paul aus dem Zelt und vor das applaudierende Publikum traten, wurde auch dem Letzten klar, dass sie mitten unter uns und wir nur gemeinsam (über-) leben können.
Und so nahm man aus diesem großartigen Abend die einfache und starke Hoffnung mit, dass nach anfänglichem Chaos Gemeinsamkeiten und Unterschiede eine spannende Vielfalt für alle ermöglichen (können).
Astrid Priebs-Tröger