Raum für Gedanken

Es wird gera­de wahn­sin­nig viel gere­det und geschrie­ben in Deutsch­land. In hoher Fre­quenz und pola­ri­sie­ren­der als sonst. Die­ses "Wer nicht dafür ist, ist dage­gen" – mir erin­ner­lich aus den Zei­ten des Kal­ten Krie­ges – steht auch bei den The­men "Flucht" und "Asyl" im Raum.

In jedem Raum. Und zwi­schen allen Per­so­nen, die sich dar­über aus­tau­schen. Und Kate­go­ri­sie­run­gen und Schub­la­den sind Vie­len unge­heu­er schnell zur Hand. Das macht (mir) Unbe­ha­gen. Inso­fern war ich glück­lich, als ich an Kath­rin Oll­ro­ges Pro­jekt "Raum für Gedan­ken" mit­ar­bei­ten durfte.

Im Herbst 2015 war die Foto­gra­fin mit ihrem Team u. a. in Thü­rin­gen unter­wegs. Ihr mobi­les Wohn­zim­mer wur­de vor Ein­kaufs­zen­tren, auf Markt­plät­zen und in Neu­bau­ge­bie­ten auf­ge­baut. Es wur­den über drei­hun­dert Gesprä­che geführt, die in einem Jour­nal ver­öf­fent­licht werden.

screenshot

Foto: Kath­rin Ollroge

Ich habe die­se Gesprächs­pro­to­kol­le alle gele­sen. Und ich habe jetzt zumin­dest einen Ein­druck, wie und war­um man so unter­schied­lich zu die­sem The­ma ticken kann. Da gibt es Vie­le, die wirk­lich nur "schwarz" oder "weiß" den­ken aber zum Glück auch unend­lich vie­le Grau­tö­ne dazwischen.

Die Pro­to­kol­le haben den Cha­rak­ter von Oral Histo­ry, einer Metho­de der Geschichts­wis­sen­schaft, die auf dem Spre­chen­las­sen von Zeit­zeu­gen basiert. Neben ihrem unschätz­ba­ren Wert für die Nach­ge­bo­re­nen haben sie jedoch auch einen bei­na­he the­ra­peu­ti­schen Wert für die Teilnehmer*innen.

Denn jene haben ihren Gedan­ken frei­en Lauf gelas­sen – ohne sofor­ti­ge Bewer­tung. So tra­gen sol­che Gesprä­che dazu bei, sich selbst zu ver­ge­wis­sern, die eige­ne Stimme/Stimmung zu fin­den. Und das ist gut so! Und wer sagt denn, dass sich Gedan­ken, Gefüh­le, Mei­nun­gen nicht ändern kön­nen? Indem man ande­ren zuhört bei­spiels­wei­se, den eige­nen oder "frem­den" Gefüh­len auf den Grund geht, sie in ihrem Gewor­den­sein betrachtet.

Und Ängs­te und Vor­ur­tei­le erst mal hoch­kom­men lässt und mit etwas (Sicherheits-)Abstand noch­mal in Ruhe drauf­schaut. Viel­leicht mehr­mals? Und erst dann ein­ord­net und bewer­tet. Oder mit ande­ren dar­über spricht, als sich von den eige­nen Emo­tio­nen über­man­nen zu las­sen. Kurz­um: Wir alle brau­chen einen "Raum für Gedan­ken" und soll­ten uns die nöti­ge Zeit dafür nehmen.

Denn alle (gesell­schaft­li­chen) Pro­ble­me, die jetzt mit viel Druck hoch­ge­spült wer­den, waren auch vor den vie­len Geflüch­te­ten schon da – wir haben sie bis dahin nur "erfolg­reich" verdrängt.

Astrid Priebs-Trö­ger

24. Januar 2016 von Textur-Buero
Kategorien: Allgemein, Alltagskultur, Fotografie, Literatur | Schlagwörter: | Schreibe einen Kommentar

Schreibe einen Kommentar

Pflichtfelder sind mit * markiert