Verlorene Seele(n)

Die­se Geschich­te beginnt still und wun­der­bar. Ein vor­nehm aus­se­hen­der alter Mann trifft auf der mor­gend­li­chen Stra­ße einen ein­sa­men Clo­chard und schenkt ihm 200 Franc. Die­ser will die groß­zü­gi­ge Gabe zuerst gar nicht anneh­men und betont immer wie­der, ein Ehren­mann zu sein. Schließ­lich eini­gen sich bei­de, dass Andre­as, so heißt der Obdach­lo­se, das Geld bei der Hei­li­gen The­re­se von Lisieux hin­ter­legt, wenn es ihm finan­zi­ell wie­der bes­ser geht.

Joseph Roths "Legen­de vom Hei­li­gen Trin­ker" ist das letz­te Werk des öster­rei­chi­schen Schrift­stel­lers, der 1939 gera­de mal 45-jäh­rig im Pari­ser Exil starb. Auch er war, wie die Haupt­fi­gur Andre­as ein Trin­ker und hat wie die­ser sei­ne Hei­mat ver­las­sen müs­sen. Die Wan­der­thea­ter­grup­pe "Ton & Kir­schen" hat mit ihrem Gespür für beson­ders phi­lo­so­phi­sche und zudem poe­ti­sche Stof­fe Roths Novel­le jetzt für die Büh­ne adaptiert.

Die Legen­de vom Hei­li­gen Trinker/Foto: Jean-Pierre Estournet

Und so läuft das Leben des Andre­as Kar­tak – über Ein­schü­be und Rück­blen­den – sowie die letz­ten vier Wochen vor sei­nem Tod bei­na­he wie ein melan­cho­li­scher Kino­film mit immer wie­der gemäch­lich ein­ge­scho­be­nen Erzähl­pas­sa­gen und viel Situa­ti­ons­ko­mik vor den Augen und Ohren der Zuschau­er ab.

Das gro­be Pflas­ter des Schirr­hofs in der Schiff­bau­er­gas­se und eine Rück­wand aus drei haus­ho­hen bau­zaun­ar­ti­gen, dreh­bar gela­ger­ten Gestel­len bil­den die Kulis­sen. Auf dem Pflas­ter wer­den mit Bis­tro­ti­schen die Cafés und Kaschem­men impro­vi­siert, die mit unter­schied­li­chen Stoff­be­zü­gen sehr wan­del­ba­ren Gestel­le sind – mal ein schril­ler Nacht­klub, ein dump­fes Obdach­lo­sen­asyl oder auch ein plü­schi­ges Nobelhotel.

Die Legen­de vom Hei­li­gen Trinker/Foto: Jean-Pierre Estournet

Die­ser halt­lo­se Trin­ker, der schlak­sig und schroff von Rob Wyn Jones ver­kör­pert wird, und manch­mal an einen ver­wahr­los­ten Bohe­mi­en erin­nert, ist kein wirk­lich bedau­erns­wer­ter Mensch. Denn er hat sich mit sei­nem har­ten, wech­sel­vol­len Schick­sal arran­giert, und lebt in sei­ner eige­nen, vor allem von Geld frei­en Welt.

Denn die­ses, das wird schnell deut­lich, bedeu­tet ihm nichts. Es ist ledig­lich das Mit­tel, um sei­nen nie enden­den Durst zu stil­len und sei­nen andau­ern­den Lebens­schmerz zu betäu­ben. Es rinnt ihm genau wie der Per­nod durch die Keh­le, durch sei­ne Hän­de und er tut nichts, um es festzuhalten.

Ganz im Gegen­satz zu den vie­len ande­ren Figu­ren in der tra­gi­ko­mi­schen Insze­nie­rung, die ihm fie­ber­haft hin­ter­her­ja­gen und sich dafür auch schon mal von einer alten rei­chen Dame (David John­s­ton)  wie Zir­kus­tie­re mit einer Peit­sche dres­sie­ren las­sen. Nicht nur an die­ser Stel­le stellt das einen mar­kant (komi­schen) Gegen­warts­be­zug her.

Die Legen­de vom Hei­li­gen Trinker/Foto: Jean-Pierre Estournet

Bedrü­cken­der ist die­ser, wenn man sieht, wie vie­le der Figu­ren – vor allem die Frau­en – halt- und see­len­los durch ihr Leben tau­meln und genau wie Andre­as nicht (mehr) in der Lage sind, tie­fer­ge­hen­de Bezie­hun­gen ein­zu­ge­hen. Bei­na­he alles, was geschieht ist schnell und ober­fläch­lich. Und der all­ge­mei­ne Wer­te­ver­fall ist – wie immer in Umbruchs­zei­ten – hier am Vor­abend des zwei­ten Welt­krie­ges spürbar.

Nur Andre­as hält (sich) noch an etwas fest. Er will sein Ver­spre­chen, das Geschenk bei der klei­nen Hei­li­gen zurück­zu­ge­ben, ein­hal­ten. Er ver­liert die­sen einen Vor­satz jeden­falls nie aus sei­nem alko­ho­lum­ne­bel­ten Schä­del, doch in der nost­al­gi­schen und viel­far­big colou­rier­ten Insze­nie­rung von Mar­ga­re­te Biereye und David John­s­ton hal­ten ihn auch ande­re trick­reich davon ab.  Man wird bei dem dau­ern­den Auf und Ab der Gefüh­le, dem schnel­len Rei­gen der Begeg­nun­gen selbst emo­tio­nal schon ziem­lich durchgeschüttelt.

Und wenn man dem mär­chen­haf­ten Grund­ton des Erzähl­ten wirk­lich nach­lauscht, spürt man beängs­ti­gend, in wel­cher see­len­lo­sen Gegen­wart wir sel­ber leben, in der die Abgren­zung von "0ben" gegen "Unten" immer erbar­mungs­lo­ser funktioniert.

Astrid Priebs-Trö­ger

Trai­ler unter: https://www.facebook.com/watch/?v=769654387113575

10. August 2020 von Textur-Buero
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