Choreografie der Details
"Rideau" (frz. Vorhang) ist die zweite abendfüllende Produktion, die die junge französische Performerin und Choreografin Anna Massoni erarbeitet hat. Und die sich wie ihr Vorgänger "Notte"(2019) damit auseinandersetzt, was Tanz(-theater) ausmacht.
Oder besser gesagt, wie Raum, Körper, Licht und Musik zusammenwirken, damit Tanztheater entsteht. In "Rideau", das jetzt im Rahmen von Made in Potsdam zur Deutschlandpremiere gelangt, fluten als erstes und immer wieder Klänge aus Peter Tschaikowskis letzter Sinfonie "Pathétique" förmlich die Bühne.
Die Tänzerin taucht auf und verschwindet wieder im Dunkel, vom Band eingespielter Beifall brandet auf, während die Performerin nicht zu sehen ist und das Publikum selbst keine Hand rührt. Das Raumgreifendste an diesem Abend ist die berühmte Musik, die im eigentlichen Sinn ein Requiem ist; die anderen Elemente wirken unfertig, beinahe wie eine Baustelle.
"Rideau" als Ganzes fühlt sich an wie ein Text, in dem Buchstaben oder einzelne Wörter vertauscht sind bzw. fehlen und das eigene Gehirn trotzdem in der Lage ist, das Ganze zusammenzusetzen bzw. zu lesen. Die (eigenen) eingeübten Theaterkonventionen greifen, werden jedoch auch immer wieder enttäuscht.
Das ist spannend, mal komisch, zuweilen irritierend und immer wieder überraschend. Die Tänzerin (Anna Massoni), die eigentlich zur romantischen Musik ein Kleid tragen könnte, tritt in T‑Shirt und Hose und barfuß auf.
Ihre anfänglichen Bewegungen erinnern an einzelne Elemente aus dem Ballett, doch schnell löst sie sich aus solchen Figuren und bedient schon gar nicht deren Emotionalität.
Oft läuft sie diagonal über die Bühne, um kurz danach mit abgewendetem Gesicht/Körper am Bühnenrand scheinbar ziellos entlang zu schleichen oder hinter dem dort aufgehängten schwarzen Vorhangstück zu verschwinden.
Immer wieder kehrt sie dem Publikum ihre Rückseite zu, scheint oft gar nicht für dieses zu spielen und erreicht gerade dadurch eine starke Verbindung mit ihm.
Massoni, die neben zeitgenössischem Tanz am Konservatorium in Lyon auch im Fernstudium Philosophie studierte, interessiert gerade dieses Verhältnis der Solistin zur Menge, sie spielt wie auch in "Notte" mit Intimität und Einsamkeit der Soloperformerin.
Anna Massoni war 2021 mit einer Förderung durch Étape Danse für eine zweiwöchige Residence in Potsdam zu Gast, und hat hier gemeinsam mit Vincent Weber die Struktur von "Rideau" gebaut, das jetzt zum ersten Mal in Deutschland gezeigt wird und neugierig auf weitere Forschungsarbeiten der sensiblen Choreografin macht.
Astrid Priebs-Tröger
Die Arbeit an diesem Artikel wurde "gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien im Programm NEUSTART KULTUR, [Hilfsprogramm DIS-TANZEN/ tanz:digital/ DIS-TANZ-START] des Dachverband Tanz Deutschland."