Irgendwo in Bulgarien
Vor ein paar Tagen ist die deutsch-jüdische Schriftstellerin Angelika Schrobsdorff 88-jährig in Berlin gestorben. Ich beschloss, endlich einen Text dieser Frau zu lesen. Die autobiografisch geprägte Erzählung "Du bist nicht so wie andere Mütter" habe ich jetzt förmlich verschlungen.
Darin erzählt Schrobsdorff vom Leben ihrer Mutter Else und natürlich von ihrem eigenen, das durch die Goldenen Zwanziger in Berlin, den aufziehenden Faschismus, die Flucht nach Bulgarien und das Kriegsende in Deutschland maßgeblich geprägt wurde.
Dieses Buch entwickelte einen unbeschreiblichen Sog, nicht nur, weil es von einer Frau geschrieben ist und von einer solchen handelt, sondern weil das, was sie erzählt, so atemberaubend in Resonanz mit unserer Gegenwart geht.
Das Verdrängen dessen, was politisch am Horizont aufzieht, das egoistische sich Einigeln und die Lust am rauschhaften Amüsement prägte nicht nur die Künstler, Intellektuellen und Lebemänner und –frauen der zwanziger Jahre in Berlin, sondern auch heute viele Menschen.
Jede*r ist sich selbst der/die Nächste – komme, was da wolle. Und wir sind ja schon mittendrin in einer (globalisierten) Welt, die immer mehr dem Chaos anheimfällt. Die Flüchtlingszahlen sprechen eine deutliche Sprache und es ist gar nicht unwahrscheinlich, dass auch dieser Herbst ein "heißer" für Europa und Deutschland wird.
Die Flucht nach Bulgarien gehört mit zum Stärksten, was in Angelika Schrobsdorffs Buch zu lesen ist. Ihre Mutter, die als assimilierte Jüdin einen preußischen Adligen geheiratet hatte, wurde langsam aber sicher zum Risiko für die Familie ihres Mannes.
Als letzten Ausweg ging sie eine Scheinehe mit einem Bulgaren ein und zog als alleinstehende Frau mit zwei Kindern 1939 nach Sofia. Was für ein Kulturschock! Schrobsdorff gelingt es, dies eindringlich aus ihrer Perspektive zu schildern.
1943, als Sofia von den Alliierten bombardiert wird, muss die Familie abermals fliehen und lebt für acht Monate in einem Dorf. Und hier, in Buchowo erfährt das inzwischen 16-jährige Mädchen zum ersten Mal menschlichen Zusammenhalt und wirkliche Geborgenheit.
"Nie zuvor und nie wieder danach habe ich so uneigennützige Großzügigkeit erfahren, wie von diesen besitzlosen Bauern, nie eine so noble Haltung Fremden gegenüber, von denen sie nichts anderes wussten, als dass sie in Not waren, nie eine so tiefe und echte Anteilnahme." (S. 447)
Es ist ungemein berührend, wie Schrobsdorff beschreibt, wie das wenige Essen und der kaum vorhandene Platz mit den "Fremden" großzügig geteilt wird und wie sie selbst davon genährt und endlich heil(er) wird. Was für ein Unterschied zu dem, was sie nach Kriegsende in Deutschland erlebt, als die Besiegten ebenfalls Not und Elend erleiden und eng zusammenrücken müssen.
Angelika Schrobsdorff, deren vorherrschendes Lebensgefühl Einsamkeit war, hat ein großartiges Buch geschrieben. Für mich ist es wie ein Fingerzeig in diesem scheinbar unbeschwerten Sommer 2016 …
Astrid Priebs-Tröger