Totentanz über Europa

Die Tanz­ta­ge wol­len (auch) ein Refle­xi­ons­ort für die Zer­ris­sen­heit in der Welt sein, sag­te Sabi­ne Chwa­lisz zur Eröff­nung des 34. Fes­ti­vals. Die zum ers­ten Mal in der Wasch­haus­a­re­na statt­fand und Arka­di Zai­des alp­traum­haft ver­stö­ren­de Per­for­mance "Necro­po­lis" als Auf­takt präsentierte.

Seit 1993 haben – so die Zah­len von euro­päi­schen anti­ras­sis­ti­schen Netz­wer­ken – fast 53.000 Men­schen an Euro­pas Gren­zen ihr Leben ver­lo­ren. Zai­des zeigt mit­hil­fe von Goog­le Earth  vie­le Orte/Koordinaten, an denen sie star­ben, gibt ihnen ihre Namen und Geschichte(n) zurück.  In "Necro­po­lis" ent­wi­ckelt sich dar­aus eine Land­kar­te des Grau­ens, die über dem euro­päi­schen Kon­ti­nent schwebt und "nor­ma­ler­wei­se" unsicht­bar ist.

Necro­po­lis © Insti­tut des Croisements

Aus­ge­hend von Pots­dams Schiff­bau­er­gas­se begeg­ne­te man zuerst Moha­med Janu­zi, einem Bos­ni­er, der gera­de mal vier Jah­re alt wur­de oder dem 25-jäh­ri­gen Afri­ka­ner, der aus Angst vor der Migra­ti­ons­po­li­zei in Schwe­den aus dem Fens­ter sprang. "Necro­po­lis" macht mehr­mals Sta­ti­on auf opu­lent geschmück­ten euro­päi­schen Fried­hö­fen, auf denen die Namen­lo­sen irgend­wo zwar eine Grab­stel­le aber kei­ne nen­nens­wer­te Beer­di­gungs-Kul­tur und nie­man­den, der sich an sie erin­nert, haben.

Necro­po­lis © Eike Walkenhorst

Und als ob dies alles nicht schon bedrü­ckend genug wäre, wird der bis dahin ohne gespro­che­ne Spra­che aus­kom­men­den Per­for­mance noch ein kaum zu ertra­gen­der zwei­ter Akt hin­zu­ge­fügt. Aus pla­s­ti­fi­zier­ten mensch­li­chen Über­res­ten wird von Arka­di Zai­des und Emma Gioia – wie von Foren­si­kern – suk­zes­si­ve eine Art Ava­tar-Figur zusam­men­ge­setzt. Und in deren blick­lo­sem Ange­sicht final die Fra­ge "Wie sind wir hier gelan­det?" gestellt. Die­ser über­aus beklem­men­de Toten­tanz über dem christ­li­chen Euro­pa – als 3D-Ani­ma­ti­on – ende­te für eini­ge Zuschau­er schon am Beginn des zwei­ten Teils und für alle ande­ren in tie­fer Stil­le. Ohne Applaus.

Necro­po­lis © Arnaud Caravielhe

Mit Bezug auf Wal­ter Ben­ja­mins For­mu­lie­rung "Es gibt kein Doku­ment der Kul­tur, das nicht zugleich eines der Bar­ba­rei wäre" stellt Arka­di Zai­des in "Necro­po­lis" die Fra­ge nach dem Wert eines jeden Menschen(lebens) und der euro­päi­schen Zivi­li­sa­ti­on ein Armuts­zeug­nis in Bezug auf das Gebot der christ­li­chen Nächs­ten­lie­be aus. Er appel­liert an jeden von uns, genau­er hin­zu­schau­en und sich zu fra­gen, in wel­cher Welt wir selbst leben wol­len. Das war ein star­ker Auf­takt, der den eige­nen gesell­schafts-poli­ti­schen Anspruch der Pots­da­mer Tanz­ta­ge ein­drucks­voll untermauerte.

Astrid Priebs-Trö­ger

Die­ser Arti­kel erschien am 22.05.2024 zuerst in den Pots­da­mer Neu­es­ten Nachrichten

22. Mai 2024 von Textur-Buero
Kategorien: Allgemein, Performance, Tanz | Schlagwörter: , , , | Schreibe einen Kommentar

Schreibe einen Kommentar

Pflichtfelder sind mit * markiert