Das eigene Fremde – so nah
Was als erstes auffällt, ist dieser durchdringende Kaffeegeruch. Und wirklich: mehrere Kilogramm diesen "schwarzen Goldes" sind auf dem Boden der fabrik verstreut.
Sie umrahmen bei den Vorstellungen von Lia Rodrigues den gesamten Bühnen- und Zuschauerraum. Beide Räume verschmelzen zu einem und die sonst so klare Trennung ist – wie so oft bei der brasilianischen Choreografin – aufgehoben. Während man sich zu orientieren versucht, wo man die beste Perspektive hat, mischen sich die ersten Tänzer*innen unter die Zuschauer*innen.
Das ist ein Prinzip der verstörend-berührenden Anordnung, in der fast jede*r hautnah erfährt, wie es sich anfühlt, wenn einem ein/e Fremde/r direkt in die Augen schaut. Denn man kann sich nicht entziehen, als die inzwischen nackten und über und über mit Kaffeepulver bestäubten Tänzer*innen einzeln auf einen zukommen.
In diesem Moment kann man nichts anderes tun, als den/die Andere/n ebenfalls anzusehen. Es ist, wie in die Seele des Gegenübers zu blicken – und: man wird selbst erschaut. Für mich der stärkste Moment dieses anderthalbstündigen Abends!
Denn die Intensität dieser kurzen Begegnungen bringt einen nach innen. Sie greift nach dem (kollektiven) Unbewussten, wie es auch die darauffolgenden Szenen tun. Die Gesichter der Tänzer*innen verschwinden dabei hinter zerrissenen T‑Shirts. Und kopflose Wesen, die knurren, jaulen und brüllen, mischen sich jetzt unters Publikum.
Jetzt kann man das Andere/Fremde (wieder) besser ausschließen und noch viel leichter geht dies, als sich die fünf Frauen und Männer als indigene Tänzer*innen kostümieren und mit stampfenden Schritten den – jetzt wieder üblichen – Bühnenraum erobern.
Doch das scheint nur so. Einem Menschen, dem ich so intensiv in die Augen geblickt habe, bleibe ich verbunden. Das ist die beste Voraussetzung, um gemeinsam etwas dafür zu tun, den "Himmel über uns zu beschützen."
Lia Rodrigues ließ sich bei "For the Sky not to Fall" vom Yanomami-Schamanen Davi Kopenawa inspirieren. Und verlas selbst am Ende ein Manifest brasilianischer Künstler*innen zur Erhaltung der Demokratie in ihrem Land.
Danke für diese intensive und immer noch nachwirkende Erfahrung!
Astrid Priebs-Tröger