Gänsehautmomente

Nach Süden, nach Süden woll­te ich fliegen/das war mein aller­schöns­ter Traum./ Hin­ter dem Hügel/wuchsen mir Flügel/um vor dem Win­ter abzuhaun/abzuhaun. Schon wegen die­ser Text­zei­len aus dem Song der Grup­pe "Lift" von 1978 hat sich der Lie­der­abend von Bet­ti­na Rie­be­sel und Jörg Dathe gelohnt.

Allein die­se Zei­len drü­cken mit kla­ren Bil­dern aus, wie es sich anfühl­te in der DDR der 1970er und 80er Jah­re zu leben. Und: Das Gefühl der Enge und des buch­stäb­li­chen Ein­ge­mau­ert Seins ist den Nach­ge­bo­re­nen heu­te nicht mehr zu ver­mit­teln. Doch denen, die es erleb­ten, und die jetzt das Lied hör­ten, ver­ur­sach­te es noch ein­mal Gän­se­haut. Nach­hal­ti­ger als blo­ße Erin­ne­rung oder ver­ba­le Auf­klä­rung es vermögen.

Fernab jeder Ostalgie und mit viel Ironie

Und die­ses Krib­beln war öfter zu spü­ren an dem Abend, der mit "Als ich ein Kind noch war", der ers­ten Zei­le die­ses "Lift"-Songs, über­schrie­ben ist. In ihrem Pro­gramm ver­knüp­fen sie vor allem tol­le Songs mit sehr per­sön­li­chen Erin­ne­run­gen aus ihrer Jugend. Die sie in Hal­le und er in der Nähe von Dres­den erleb­te. Und fern­ab von jeder Ost­al­gie ist das Gan­ze mit einer guten Por­ti­on Iro­nie (bei ihr) und einer Grund­do­sis Melan­cho­lie (von ihm) und wir­kungs­vol­len Brü­chen gewürzt.

Gleich zu Beginn wird dies deut­lich: Bei­de sin­gen mit Hin­ga­be den sehn­suchts­schwan­ge­ren Song "Wei­ßes Boot" von den "Roten Gitar­ren"- einer pol­ni­schen Band, die die "Beat­les des Osten" genannt wur­de. Sie tut dies mit unüber­hör­bar pol­ni­schem Akzent und setzt damit dem Gan­zen iro­nisch die Kro­ne auf. Wenn man heu­te die Band und den Song goo­gelt, wird man leicht bei you­tube fün­dig und sieht, dass er immer noch über 100.000 Men­schen etwas bedeutet.

Dies zieht sich durch den gan­zen Abend: die Ein­drü­cke aus der Jugend­zeit beein­flus­sen das/unser Leben nach­hal­tig. Und ja, die Zusam­men­stel­lung ist auch für die Zuschau­er und Zuhö­rer aus den alten Bun­des­län­dern sehens- und hörens­wert. Bei­de Inter­pre­ten haben das seit 2016 mit einem DDR-Lie­der­abend am Kon­stan­zer Thea­ter, an dem bei­de enga­giert waren, erprobt.

Sehr poetische und eher unbekannte Texte und Interpreten

Denn er ver­sam­melt nicht die alten "Puh­dys"- oder "Karussell"-Hits, die inzwi­schen auch im musi­ka­li­schen Main­stream der Bun­des­re­pu­blik ange­kom­men sind, son­dern sucht ganz bewusst nach sehr poe­ti­schen und eher unbe­kann­te­ren Tex­ten und Inter­pre­ten wie Han­si Biebl oder die Grup­pen "Reform" oder "Mag­de­burg", für die es bereits in der DDR schwie­rig war, zu existieren.

Und gera­de hier lohn­te es, den alten Text noch ein­mal zu hören und ihn auf sei­ne Bedeu­tung für das Heu­te abzu­klop­fen: Sag, was wird mor­gen sein?/Bau‘ n wir nur auf Sand?/Hau’n wir uns in Stein? / Sag, was wird mor­gen sein? / Geh’n wir Hand in Hand/oder längst allein?/Das sang „Mag­de­burg“ – 1979.

Nachwirkende Highlights von "Reform"

In die­se "zeit­lo­se" poe­ti­sche Tief­grün­dig­keit, für die DDR-Rock­mu­sik auch immer stand,  misch­te das Duo dann sehr effekt- und wir­kungs­voll auch Hits von Vero­ni­ka Fischer, Ute Freu­den­berg, von Sil­ly oder Nina Hagen. Letz­te­re erschien ver­spä­tet als  Star­gast des Pro­gramms und wur­de  mit dicker Spiel­freu­de sowie gro­ßer Wand­lungs­fä­hig­keit von Bet­ti­na Rie­be­sel platziert.

Und natür­lich durf­te auch Udo Lin­den­berg mit sei­nem "Son­der­zug nach Pan­kow" nicht feh­len.  Aber das waren letzt­end­lich nicht die High­lights, son­dern viel stär­ker wirk­ten die "Lift"-Texte oder Han­si Biebl-Songs nach. Und das "Reform"-Lied "Löwen­zahn" kam einem vor, als sei es erst vor kur­zem geschrie­ben worden.

Astrid Priebs-Trö­ger

15. Oktober 2018 von admin
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