Choreografie als Widerstand
Wie vielfältig das inhaltliche und stilistische Spektrum der 29. Potsdamer Tanztage war, zeigten auch zwei Inszenierungen des Abschlusswochenendes: Die südkoreanische Produktion "Let me change your name", die im Nikolaisaal zu sehen war und das kanadische Solostück "Running Piece", das im T‑Werk zur Aufführung kam.
Running Piece
Ein Mann rennt. Fast eine halbe Stunde lang zur vom Laufband vorgegebenen Geschwindigkeit. Die scheint ihm nichts anzuhaben, denn Fabien Piché im Solostück "Running Piece" verzieht keine Miene dabei. Ab und zu lässt er die Arme baumeln, manchmal nickt er mit dem Kopf, aber die Beine tun nahezu mechanisch ihren Dienst. Ausdauernd und mit hoher Frequenz.
Der Mensch ist ein Läufer. Und Laufen (auch) ein Synonym für das Leben. Das wird in "Running Piece" wunderbar athletisch und rhythmisch, philosophisch und poetisch erzählt. Man schaut dem Läufer gebannt dabei zu, selbst die anfängliche und andauernde Einförmigkeit entwickelt einen meditativen Sog. Doch ganz allmählich wird der Läufer langsamer, gerät ins Trudeln und ins Trippeln. Doch noch kämpft er dagegen an und eines wird klar: Stillstand ist zu vermeiden.
Aber der Mensch ist kein Perpetuum Mobile. Und trotz immenser physischer und mentaler Ressourcen nicht dazu gemacht, immer weiter zu laufen. Er braucht Erholung, neue Impulse, letztendlich Kreativität, um durch das/sein Leben zu gehen/zu laufen. Und er kann sich auch nicht unbegrenzt an das von Maschinen vorgegebene Tempo anpassen. Wenn ihm das (schmerzlich) bewusst wird, kommt es meistens zur Krise. So auch in "Running Piece", als auch dieser durchtrainierte Körper nach Ruhe verlangt und gegen die Stimmen im eigenen Kopf nicht mehr anzukämpfen ist.
Dass Krisen auch meistens Chancen sind, erfährt auch der Läufer auf dem Band. Er geht in die Knie, er stolpert, läuft rückwärts mit großer Anstrengung, geht in die "falsche" Richtung, sucht eine neue Balance, wirkt unendlich hölzern und versucht es auch mit Marschieren. Und: er beginnt dem Laufband, dessen Ursprung bis in das 19. Jahrhundert zurückreicht und das somit auch als Synonym für umfassende Technisierung/Kapitalisierung begriffen werden kann, nach und nach (s)eine eigene Geschwindigkeit aufzudrücken.
Denn jetzt breitet Fabien Piché die Arme aus und nimmt sich tastend Raum und Zeit. Wunderbar ist das und es wird offensichtlich, wie sehr Laufen und Tanzen zusammengehören. Und dass die sich entwickelnde Choreografie (auch) Widerstand gegen die vorgegebene mechanische Normierung ist. Und wie produktiv es ist/sein könnte, wenn Mensch und Maschine sich wechselseitig beeinflussen und nicht die Effizienz von Maschinen und Menschen als allumfassendes Kriterium für Fortschritt gilt.
"Running Piece" ist auch ein berührender Lebenstanz. Es zeigt in einer ungemein intensiven Stunde die unterschiedlichen Lebensphasen und auch die Furcht vor dem Ende, das hier darin bestünde, stehenzubleiben und somit vom Band zu kippen. Großartig und nahezu utopisch an der kanadischen Inszenierung von Jacques Poulin-Denis ist, wie "einfach" es ist, den vorgegebenen respektive eingefahrenen Bahnen zu entkommen: ein einfacher Richtungs- und Perspektivwechsel und das Vertrauen in die menschliche Kreativität reicht aus, um neue Impulse zu setzen.
Die 29. Potsdamer Tanztage – ein Resümee
Mehr als 6500 Zuschauer haben die 24 Aufführungen in diesem Jahr besucht. Von denen mehr als die Hälfte ausverkauft war. Das Festival, das erstmalig in seiner fast 30jährigen Geschichte unter einem übergreifenden Motto stand – 100 Jahre Bauhaus/Dancing Future – war, wie Festivalleiter Sven Till im Gespräch sagte, dank Beteiligung des Bundes auch zum ersten Mal auskömmlich finanziert. Dadurch und durch einen Vorlauf von zweieinhalb Jahren konnte das Festival auch über diesen längeren Zeitraum kontinuierlich entwickelt und geplant werden.
Das 29. deckte mit seinen zwei Dutzend Inszenierungen, die sich sowohl mit den Bauhaus Anfängen – dem Triadischen Ballett von Oskar Schlemmer – als auch dem Erbe auseinandersetzten, einen Zeitraum von fast 100 Jahren Tanzgeschichte und –produktion ab.
Herausragend dabei die Wiederentdeckung der Performancekunst von Anna Halprin der frühen 1960er Jahre, die in "Parades & Changes" mit starkem Gegenwartsbezug wiedererweckt wurde oder die Neubearbeitung von "Formas Breves" der Brasilianerin Lia Rodrigues. Großartig auch die vielschichtige Auseinandersetzung mit dem künstlerischen Entwicklungsprozess und den dazugehörigen sozialen Prozessen in "How to proceed" von Thomas Hauert, der wie "Running Piece" künstlerische Prozesse als Blaupause für gesellschaftliche Entwicklungen nimmt.
Mehrere Produktionen widmeten sich auch dem Thema "Mensch und Maschine" im Zeitalter der fortschreitenden Digitalisierung. Ein überwältigendes und ungemein sinnliches Tanzerlebnis ermöglichten dabei die Newcomer der Potsdamer Tanztage – die jungen Choreografen Jonas & Lander aus Lissabon, denen mit "Lento e Largo" ein echter Überraschungscoup gelang und mit denen ich mir unbedingt ein Wiedersehen wünsche.
Astrid Priebs-Tröger