Alles kippt …
Das Wetter hätte nicht besser mitspielen können bei dieser ersten Premiere der diesjährigen Schirrhofnächte. Deren Thema – oberflächlich betrachtet – gut zur ersten lauen Augustnacht passte.
Der über beide Ohren verliebte Figaro soll heiraten. Und zwar seine geliebte Susanne. Alles wäre bestens, wenn Figaro nicht ein Bediensteter und seine Angebetete nicht ein potenzieller sexueller "Leckerbissen" in den Augen des gemeinsamen Dienstherrn wären.
Der, wie bei Beaumarchais und im Feudalismus üblich, das "Recht der ersten Nacht" für sich beansprucht. Und wer meint, solche Gepflogenheiten gehören seit dem Zeitalter der Aufklärung der Vergangenheit an, hat wahrscheinlich die #Mee-too-Debatte verpasst. Insofern ist die sexuelle Hörigkeit gegenüber dem Arbeitgeber, Professor oder Regisseur etwas, das zwar nicht mehr "gesetzlich" verbrieft ist aber immer noch vor allem von jungen Frauen erwartet wird.
Zwei Szenen prägen sich besonders ein: Graf Almaviva penetriert mit seiner biegsamen metallenen Reitgerte die junge Zofe auf offener Szene. Und seine Gattin (Rike Joeinig) singt in roter Robe sarkastisch Milvas Song vom "Zusammenleben", in dem sie "ganz Frau aber auch ganz frei zu sein" vermag. Schön wär’s – auch wenn Almaviva ihretwegen einst gelobte, auf seine sexuellen Privilegien zu verzichten.
In dieser spielerisch hochgedrehten Inszenierung des Neuen Globe Theaters von "Der tollste Tag oder Figaros Hochzeit" in der Bearbeitung von Peter Turrini ist die Atmosphäre vom ersten Moment an überdeutlich sexuell aufgeladen, alle bewegen sich frivol und lasziv und gieren deutlich sichtbar nur nach dem Einen. Egal, von oder mit wem. Figaro und der Graf wollen die appetitlich verpackte Susanne, die vernachlässigte Gräfin den geilen Diener Cherubim, dieser wiederum eine andere junge Magd und die abgetakelte Marceline heimlich den androgyn wirkenden Figaro.
Dieser scheint anfangs nicht zu merken, was um ihn herum vorgeht, wird aber von Susanne, die äußerst geistesgegenwärtig von Magdalena Thalmann verkörpert wird, mit der Nase mitten ins erotisch-amouröse Elend gestoßen, in dem jederzeit alles und jeder kippen kann. Und da Laurenz Wiegand als Figaro noch meint, durch Witz und Intrigen die Gelüste seines Herrn zu überwinden, setzt er einen rasanten Reigen in Gang, an dessen Ende er – und alle anderen – zwar einen Tag wie im Tollhaus jedoch nicht seine Hochzeit erlebt haben werden.
Die Inszenierung im Stil einer Screwball-Komödie unter der Regie von Andreas Erfurth und Kai Frederic Schrickel spielt dabei mit jeder Menge slapstickhafter Momente, manierierten Gesten und Haltungen sowie Geschlechterrollenklischees. Graf Almaviva, den Schrickel selbst verkörpert, ist ein ergrauter Lustmolch und Maulheld, mal im prächtigen Kimono, mal wie ein Torero gewandet – und will letztendlich nur seine Macht ge- respektive missbrauchen.
Andreas Erfurth, der erneut in einer Frauenrolle seinem komödiantischen Affen reichlich Zucker gibt, stolziert als Marcelline mit nackiger Wampe und schlaffen Brüsten durch die vor allem wortgewaltige Szenerie, um letztlich nur durch Erpressung seiner Einsamkeit zu entkommen. Alle Figuren sind krass überzeichnet, erinnern aber gerade dadurch an die Atmosphäre im heutigen Show- oder Politikbusiness.
Auch der Rückgriff auf so gegensätzliche Musikelemente wie "Lady Cool", den "Rosaroten Panther" oder eben Milvas Song entlarvt alles als gigantische Show. Und als wäre dies noch nicht genug, schließt sich eine überdrehte Gerichtsszene, in der Figaro zur Heirat mit Marcelline verurteilt wird, an. Auch hier wird nicht mit Überzeichnungen gegeizt, denn ALLES ist verhandelbar und JEDER scheint käuflich.
Und ja, auch "Corona" bleibt nicht außen vor. In der Inszenierung hat Figaro öfter eine Sprayflasche in der Hand, mit der er wild in der Gegend herumdesinfiziert. Und natürlich muss auch der Spruch "Gestorben wird, sobald der Arzt kommt", herhalten, um mehr als überdeutlich den Gegenwartsbezug herzustellen. "Gevögelt wird", wie in der Vorankündigung reißerisch behauptet, jedoch weder auf noch hinter der Bühne. Alles schön auf Abstand – langstieliger Putzmop oder Reitgerte machen es möglich. Und man selbst sitzt in angenehm lockerer aber dennoch dem Theater bekömmlicher Reihung unter freiem Himmel.
Und am Ende? Ausgerechnet Bazillus (Martin Radecke), der nicht nur körperlich verdrehte Intrigant des Grafen schreit "Revolution" und Cherubim (Marius Mik) schwenkt sogleich eine weiße Fahne mit einem roten Herz in der Mitte. Ach, wenn es doch so wunderbar "einfach" wäre! Denn das unheimliche Gefühl, dass in der krisenhaften Gegenwart nichts mehr ist wie es war, kann auch durch das überdrehte Sommerspektakel nicht mal ansatzweise vertrieben werden.
Astrid Priebs-Tröger