Vertrauen in das Menschliche
Der Mittwochabend bei den Tanztagen war einer mit starken Kontrasten und provokanten Botschaften. Während in "Rewriting/The Solo Piece" die Performer Burrows & Fargion , die bis vor Kurzem 30 Jahre lang überaus erfolgreich zusammenarbeiteten, jetzt ihre neuen Solostücke hintereinander präsentierten, nahm Michiel Vandevelde aus Brüssel in der Deutschlandpremiere von "The Goldberg Variations" auf über drei Jahrzehnte westliche Tanzgeschichte und die politischen (Straßen-)Kämpfe seit dem Vietnamkrieg Bezug.
Und während sich die intimen Solostücke der beiden Briten gefühlt an Insider wie Choreografen und Tänzer richteten – Jonathan Burrows hatte darin sein berühmtes Choreografie-Handbuch in viele Einzelkarten zerlegt – wandte sich Vandevelde an uns alle, an die gesamte Menschheit gewissermaßen. Und die zeitlos universell erscheinende Barockmusik von Johann Sebastian Bach, in die schon bei ihrer Entstehung zweihundert Jahre Musikgeschichte eingegangen sind, vermochte es eindrücklich, Vergangenheit und Zukunft miteinander zu verbinden. Denn genau dies hat Vandevelde vor, wie er in der Kurzvorstellung der Akteure und der Inszenierung ganz am Anfang sagte.
Die Goldberg-Variationen wurden vom brillianten Akkordeonisten Phillipe Thuriot live gespielt. Anfangs saß er allein auf der dunklen Bühne, während in seinem Rücken eine farbige, zuerst abstrakt erscheinende Projektion von "Bewegung" über die gesamte Bühnenbreite entstand. Nach und nach kristallisierten sich daraus Menschengruppen und dann die ersten politischen Demonstrationen heraus. Auch diese weltumspannend und bis in die Gegenwart reichend.
Michiel Vandevelde, der wie sein tänzerisches Vorbild der Amerikaner Steve Paxton in den 1970er Jahren, seine Choreografien ausdrücklich in den sozialen und politischen Kontext der Gegenwart stellt, fängt damit bereits bei der Wahl seiner Tänzer an. Mit ihm zusammen tanzen die schwarze Tänzerin Audrey Merilus und Oskar Stalpaert, der mit Down-Syndrom lebt. Gemeinsam sind sie in ihrer Individualität und Unterschiedlichkeit großartig. Auch das ist in der Gegenwart auf der Bühne und im Alltag leider immer noch keine Normalität.
Im ersten Teil treten alle mit dunklen Hosen und nackten Oberkörpern auf, ihre großen Armbewegungen symbolisieren Lebensfreude. Überlappend dazu sprechen die Demobilder ihre ungemein energiegeladene, vor allem körperliche Sprache. Es ist faszinierend, allein schon daran, Rückschlüsse auf den politischen Inhalt, die Absichten der Demonstrierenden zu ziehen.
Bis schließlich ein Bild mit schwarzgekleideten Polizisten und einem Mann mit ausgebreiteten Armen, der sich ihnen entgegenstellt, auftaucht und einfriert. Daneben ist eine körperlich ähnliche Geste jedoch diesmal aus dem berüchtigten Foltergefängnis Abu Ghuraib zu erkennen. Und auch die Tänzer breiten – ohne Musik – ihre Arme immer wieder wie zu einer Kreuzigung – aus.
Diese kongeniale Verbindung der auf- und abschwellenden Demobilder und der zur Live-Musik getanzten Szenen macht einen großen Reiz dieser überaus komplexen Inszenierung aus, in die vor allem Oskar Stalpaert so etwas wie Leichtigkeit hineinbringt, während Audrey Merilus oft ihre nervös-fragilen Hände auch bis zum eigenen Hals führt, so als würde sie ersticken.
Solch beengende Energie überträgt sich, vor allem, wenn im letzten Teil Bilder von rechtsextremen Aufmärschen eingeblendet werden, wo zerstörerisch wütende Männlichkeit voller Hass demonstriert und vorzugsweise der rechte Arm gereckt wird.
Und dann setzt Michiel Vandefelde etwas dazu, das einem in diesem Zusammenhang fast den Atem verschlägt: Auszüge aus Hannah Arendts berühmten Interview mit Günther Gaus von 1964, in dem die Philosophin erklärt, worin für sie das "Wagnis der Öffentlichkeit" besteht. Sie sagt darin "wir schlagen unseren Faden in ein Netz der Beziehungen. Was daraus wird, wissen wir nie, und dieses Handeln", so Ahrendt weiter, setze "Vertrauen in das Menschliche aller Menschen voraus." Eine provokante Botschaft in unserer stark polarisierenden, nicht nur politisch aufgeheizten Gegenwart.
Astrid Priebs-Tröger