Nicht(s) für die Ewigkeit
Wann haben Sie zuletzt Gedichte gelesen, rezitiert oder gar selbst verfasst? Diese scheinen, wie (künstlerische) Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen, so ziemlich aus der Mode gekommen zu sein. Das theater 89 hat während der Pandemie 2021 einen Balladen- und Liederabend kreiert, mit dem es jetzt während der 8. Schirrhofnächte in Potsdam gastierte.
Mit "Tand, Tand ist das Gebild' von Menschenhand", aus "Die Brück von Tay" von Theodor Fontane, war er überschrieben und fünf Schauspieler – darunter zwei Kinder – und eine Schauspielerin gestalteten ihn – total analog; nicht mal durch Mikros verstärkt. Nur menschliche Stimmen, eine Bretterbühne und ab und an Gitarrenbegleitung. Stark und großartig war das unter der Regie von Hans-Joachim Frank und der musikalischen Leitung von Martin Schneider.
Schon im Epilog vom namensgebenden Brückengedicht machen die drei Hexen (aus Shakespeares "Macbeth") deutlich, dass Menschengemachtes nichts für die Ewigkeit sondern vergänglicher "Tand" ist.
Fontane stellte damit der Fortschritts- und Technikgläubigkeit des 19. Jahrhunderts eine skeptische Position gegenüber – etwas, das heute beispielsweise im Zuge der fortschreitenden Digitalisierung und der großangelegten Einführung von Künstlicher Intelligenz oder der Eroberung des Mars durchaus wieder (s)eine Berechtigung hat.
Neben Fontane-Balladen, Skizzen und Gedichten von Georg Weerth – dem ersten Dichter, der das Elend der Proletarier in den Blick nahm – kamen Verse von Hoffmann von Hoffmannswaldau, Andreas Gryphius, Annette von Droste-Hülshoff, Heinrich Heine, Joseph von Eichendorff, Wilhelm Müller und Frank Wedekind zu Gehör.
Wunderbare Wortgebilde aus dem 16. bis 19. Jahrhundert – mit das Schönste, was in deutscher Sprache hervorgebracht wurde. Und gerade die Balladen als Mischform mit epischen, lyrischen und dramatischen Elementen durchsetzt, zogen in ihren theatralischen Bann. Und: in vielen Fällen – so vor allem bei Weerth, Fontane und Heine – mit starkem gesellschaftlichen Bezug, die sozialen Missstände vor der 1848er Revolution und die Auswirkungen der beginnenden Industrialisierung aufs Korn nehmend.
Aber auch immer wieder die (unglückliche) Liebe, das (harte) Leben, den Tod, die Wanderschaft und Auswanderung (nach Amerika). So entstand vor/in den Zuhörer*innen im abendlichen Schirrhof ein plastisches Gemälde, wurde u. a. die geistige und emotionale Verfasstheit dieser vorrevolutionären Krisenzeit nachfühlbar – auch mit den Mitteln von Satire und Ironie.
Und: unter Einbeziehung von englischen, jiddischen und polnischen Liedern ging es dabei nicht nur um Deutschland, sondern immer um Europa/die Welt. Dazu passt auch, dass die polnischen Gäste Bartosz Borula (Tenor) und Pawel Wiencek (Bariton) nach einer Stunde dazu stießen und berühmte polnische/schlesische Lieder wie "Karolinka" oder "Kleiner Kuckuck" zum Besten gaben – mit sehr viel Herz.
Die mitreißende Ensembleleistung der historisierend kostümierten Schauspieler*innen, einer mit Backenbart erinnerte optisch an Georg Weerth, machte Lust auf mehr und vor allem darauf, wieder selbst einmal die eine oder andere Ballade zu lesen oder sich mit dem kurzen, aber intensiven Leben Weerths, der 34-jährig auf Kuba starb, zu beschäftigen.
Astrid Priebs-Tröger