Welcome to hell
In den beiden Inszenierungen des zweiten Festivaltages, der sich an jugendliches Publikum richtete, spielten Mauern eine wichtige Rolle. In "Payper Play" war es eine die Bühne umschließende aus mehreren hundert Pappkartons und in "This wall has no title" waren es Steinmauern, die sich in Stadträumen befinden und mit StreetArt versehen waren.
Beide Inszenierungen stammten von italienischen Choreograf*innen, die zum ersten Mal in der Potsdamer fabrik zu Gast waren. Und sie zeigten in künstlerisch sehr unterschiedlicher Art nachhaltig verstörende Bilder, die an die (Alb-)Träume der westlichen Welt und deren gerade sichtbar werdenden Konsequenzen rührten.
In "This wall has no title" von Martina La Ragione korrespondierte die Eingangssequenz mit René Magrittes berühmtem surrealistischen Gemälde "Die Liebenden" von 1928, auf dem sich ein Mann und eine Frau, deren Köpfe mit weißen Tüchern vollständig verhüllt sind, zu küssen versuchen.
In den ersten Momenten von "This wall has no title" sehen wir zwei Menschen, deren Köpfe und Oberkörper ebenfalls weiß verhüllt sind und die vor einer weißen Wand eng umschlungen, mit nackten Beinen, die in Boots stecken, tänzerisch bewegen beziehungsweise aneinander festhalten.
Später flackern Wortgruppen wie "It's a free country", "Welcome to hell" oder "I don't believe anything" über die Wand hinter ihnen und die beiden inzwischen unverhüllten Menschen verschwinden fast vollständig hinter einem zweidimensionalen elektronischen Barcode, dem sie lediglich durch eigene Bewegung etwas entgegensetzen respektive entkommen können.
In Andrea Costanzo Martinis Uraufführung "Payper Play" geht es ebenfalls um Kommerz. Pay-per-Play ist ein Begriff aus dem E‑Commerce und bedeutet "pro Spiel bezahlen". Das "Spiel" findet hier zwischen den übermannshohen Pappkartonwänden statt, zwischen denen ein Junge im Schlafanzug zuerst traumwandlerisch tanzt und bald immer mehr konsumiert.
Weil er zwischen den leblosen Pappgegenständen trotzdem einsam ist, ordert er per Bildschirm einen "Spielkameraden", der zwar schnell spiegelbildlich von ihm lernt, mit ihm jedoch keine wirkliche Beziehung aufbauen kann. Die ergibt sich erst, als eine weibliche Ergänzung für den Spielkameraden ebenfalls per Knopfdruck geordert wird, und diese beiden Kunstwesen harmonieren.
Andrea Costanzo Martinis Inszenierung findet originelle und zugleich subtil nachwirkende Bilder über die Macht der Dinge, die uns inzwischen alle beherrschen; sie zeigt deren Wechselwirkung mit der menschlichen Psyche und letztendlich die Vernichtung alles Natürlichen, den Menschen eingeschlossen. Auch wenn dies hier betont spielerisch und in einer skurrilen Traum(tanz-)welt daherkommt, wird es konsequent bis zum bitteren Ende erzählt.
La Ragiones "This wall has no title" findet für die seelische Verwüstung/Verletzung des modernen Menschen am Schluss abermals ein starkes Bild – die Projektion einer überdimensionierten Kinderzeichnung eines Menschen mit weit aufgerissenem Mund, die wiederum Edvard Munchs "Schrei" in Erinnerung ruft. Diese wird verdeckt, dann umarmt und schließlich "tanzt" Martina La Ragione mit ihr.
Doch die Worte, die ganz zuletzt über die Tür, durch die alle Studio 4 verlassen, flimmern – "laugh now but one day will be in charge" – klingen angesichts dessen kaum wie eine positive Verheißung.
Astrid Priebs-Tröger
Die Arbeit an diesem Artikel wurde "gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien im Programm NEUSTART KULTUR, [Hilfsprogramm DIS-TANZEN/ tanz:digital/ DIS-TANZ-START] des Dachverband Tanz Deutschland."