Was kommt?

Der  Essay "Den­tro do Nevoeiro"/"Im Nebel" des bra­si­lia­ni­schen Kunst- und Archi­tek­tur­kri­ti­kers Guil­her­me Wis­nik war der Aus­gangs­punkt der per­for­ma­ti­ven Arbeit,  die Mur­il­lo Bas­so und Ani­ta Twa­rows­ka Anfang 2023 in der Stadt- und Lan­des­bi­blio­thek aufführten. 

"Im Nebel" steht dabei als Meta­pher für post­mo­der­ne gesell­schaft­li­che Ent­wick­lungs­pro­zes­se, wie z. B. die Auf­he­bung der Dua­li­tät von "Freund" und "Feind" nach dem Fall des Eiser­nen Vor­hangs, von Gebäu­den im Nebel, die Cloud im Inter­net oder auch die flüch­ti­gen Wol­ken des Finanz­ka­pi­tals. Es läuft hin­aus auf die Fra­ge, wIe man am "Ende der Geschich­te", im Nebel leben kann?

Hin­ter uns der Nebel © Here We Are

Jetzt haben die bei­den Tän­zer mit dem Here we are Coll­ec­ti­ve im Rah­men des Kunst und Kli­ma-Fes­ti­vals in die Alte Neu­en­dor­fer Kir­che zu einer 24-Stun­den-Per­for­mance ein­ge­la­den, die den Titel "Hin­ter uns der Nebel" trägt. Man begibt sich auf Socken  in den acht­ecki­gen Kir­chen­raum, der bei den küh­len Außen­tem­pe­ra­tu­ren gut geheizt ist. Und lässt sich auf einem der vie­len Sitz­kis­sen, die am Boden lie­gen, schwei­gend nie­der und harrt der Din­ge, die da kom­men (sol­len).

Doch eine gefühl­te Ewig­keit pas­siert (fast) nichts. Die immer glei­chen Bil­der von einem Stein­fuß­bo­den fla­ckern auf den Bild­schir­men und Pro­jek­ti­ons­flä­chen an den hel­len Kir­chen­wän­den. Eine wie ein Schiff anmu­ten­de Draht­plas­tik dreht ihre lang­sa­men ste­ti­gen Run­den, Ani­ta Twa­rows­ka und Mur­il­lo Bas­so bewe­gen sich kaum.

Es fühlt sich an wie in einem War­te­raum, die Zeit zer­dehnt sich in end­lo­sen Minu­ten. Da man auf­ge­for­dert ist, selbst den Kir­chen­raum zu erkun­den, wech­seln eini­ge Betei­lig­te die Sitz­po­si­tio­nen und –plät­ze, klet­tern auf die Kir­chen­em­po­re, um sich das Gan­ze von oben anzusehen.

Doch eigent­lich pas­siert NICHTS, in die­ser (lang anhal­ten­den) Stil­le. Eine Situa­ti­on, die Vie­le von uns gar nicht mehr gut aus­hal­ten kön­nen. Und immer wenn sie ent­steht, sie mit dem Smart­phone oder Musik auf den Ohren zu über­brü­cken ver­su­chen, was hier nicht gestat­tet ist.

Eine drei­vier­tel Stun­de spä­ter kommt eine sicht- und fühl­ba­re Ver­än­de­rung von außen. Die auf­zie­hen­de Abend­däm­me­rung taucht den Kir­chen­raum in ein ande­res Licht, ver­setzt ihn atmo­sphä­risch an einen ande­ren Ort. Bas­so und Twa­rows­ka haben sich erst ein­zeln und spä­ter gemein­sam bewegt. Plötz­lich wir­ken sie in der Mit­te des halb­dunk­len Rau­mes wie Wald­geis­ter, die auf einer Lich­tung in der Nähe eines fla­ckern­den Feu­ers tanzen.

Wie sie dahin gelangt sind, ist fast nicht zu rekon­stru­ie­ren, denn in der kon­tem­pla­ti­ven Betrach­tung in der man sich seit über einer Stun­de befin­det, geht es nicht dar­um, alles ana­ly­tisch zu durch­drin­gen, son­dern sich die­sem Gesche­hen eher zu über­las­sen. Und dabei öfter mal die Per­spek­ti­ve zu wech­seln. Denn von oben wirkt die Per­for­mance ganz anders, als wenn man zwi­schen den zahl­rei­chen Com­pu­tern am Boden sitzt und jede kleins­te Ver­än­de­rung, die Nico­las Schul­ze und Oscar Loe­ser vor­neh­men, zu regis­trie­ren versucht.

Diese/meine Beob­ach­tun­gen stam­men aus den ers­ten 90 Minu­ten der ins­ge­samt 24-stün­di­gen Instal­la­ti­on und sie spie­geln nur einen Bruch­teil des­sen, was ande­re Besucher:innen dort erle­ben. Den­noch sie sind ein Puz­zle­teil eines kol­lek­ti­ven Erleb­nis­ses, das  in der Abge­schie­den­heit des Kir­chen­rau­mes zwi­schen allen Betei­lig­ten ent­steht. Und auf die Fra­ge "Was kommt?" ganz indi­vi­du­el­le Ant­wor­ten fin­det. Und wenn nicht, gibt es ja auch die Opti­on  – wie die indi­ge­ne Bevöl­ke­rung Bra­si­li­ens – auf das zu war­ten, was sich zeigt, wenn der Nebel sich irgend­wann selbst ver­zieht, sprich: die Zeit vergeht.

Astrid Priebs-Trö­ger

03. Oktober 2024 von Textur-Buero
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