Auch der Dschungel hat viele Sprachen
Das "Dschungelbuch", eines der weltweit erfolgreichsten Kinderbücher, haben die Elev:innen der Tanzakademie Marita Erxleben als Vorlage für ihre jetzt getanzte Version ausgewählt und schon in deren Eingangsmomenten wird deutlich, wie nah Tier- und Menschenwelt beieinander liegen.
"Ich bin das Auge des Dschungels, ich sehe die Vergangenheit und die Zukunft", sagt Kaa, die große Schlange, der HOT-Schauspielerin Kristin Muthwill ihre Stimme leiht. Und sie sagt auch, "dass Chaos und Dunkelheit über unser Land gekommen ist"; es fühlt sich an wie ein Raunen in die Gegenwart.
Die Gesetze des Dschungels sind streng hierarchisch und als Einzelne:r ist kaum ein Überleben möglich. Schon gar nicht für ein kleines Menschenkind, das der große Tiger Shir Khan (Charlotte Weber) beim Überfall auf die Menschensiedlung erbeutete.
Mogli (Ricco-Jarret Boateng) findet jedoch einflussreiche Fürsprecher – Pantherin Baghira und Bär Balu – und er wird in das Wolfsrudel eingegliedert. Dort wächst er heran und kommt in die Pubertät.
Hier setzt Marita Erxlebens Choreografie an, denn sie zeigt in 75 fantasie- und kraftvollen Minuten hauptsächlich die Loslösung des Jungen von seinen tierischen Zieheltern und die (Neu-) Ankunft in der menschlichen Gesellschaft.
Balu (Johannes Heinrichs) und Baghira (Lissy Janzen) sind rührige Ersatzeltern, doch dem etwas großmäuligen Bären möchte man alsbald "Loslassen, Papa!" zurufen, während die Panther-Mama Vertrauen in die Kräfte und die Geschmeidigkeit des Heranwachsenden hat und schließlich ein wunderbares Duett mit ihm tanzt.
Moglis individuelles Erwachen beginnt nach der ersten Begegnung mit dem (Menschen-)Mädchen Shanti und gipfelt schließlich in der Identitätsfrage – Wer bin ich?
Dazwischen gibt es viele wunderbare Begegnungen mit quirligen Schlangen, Wölfen, Wasserlilien, der Geier-Crew, allerlei buntschillernden Faltern, Schildkröten, Bienen, Pfauen, kleinen Wölfen, Fledermäusen, Kolibris und Lemuren … sie alle werden mit Witz und Hingabe von einem halben Dutzend Besetzungen von 6- bis 18-Jährigen getanzt.
Wie immer farbenfroh und vielfältig und mit diversen Körpern. Denn es geht um die gemeinsame Freude am Tanz, die die Inszenierungen von Marita Erxleben auszeichnet und die jedes Jahr zahlreiche Potsdamer:innen generationenübergreifend ins Hans Otto Theater – alle Vorstellungen sind ausverkauft – bringt.
Das alles findet statt zwischen tosendem Wasserfall, Felsen und Dschungelgewächsen (Bühne: Michael Wawerek, Kostüme: Camilla Daemen) und wird ausgeführt als Ballett, Street- und Jazzdance, Akrobatik und Kampfkunst und vor allem mit jeder Menge Energie und Lebensfreude.
Wie in diesem gibt es Hell und Dunkel – und eine ziemlich aufmüpfige Affenbande mit Yoan Tchorenev als Affenkönig, der sich brennend für das Feuer der Menschen interessiert. Denn letztendlich unterscheidet vor allem dies – nämlich, Kultur – den Menschen vom Tier.
Das Geheimnis der roten Blume und der (vermeintliche) Widerspruch Natur versus Kultur werden sehr kindgerecht dargestellt und aufgelöst. Denn Diversität gibt es hier wie da: Du und ich sind vom gleichen Blut, viele Sprachen hat nicht nur der Dschungel.
"Was wirst Du sagen, Menschenkind", fragt auch zum Schluss wieder die weise Schlange. Für wen wirst Du Dich entscheiden?" Im "Dschungelbuch" von Marita Erxleben meint das kein starres Dafür oder Dagegen, sondern ein fließendes Sowohl als Auch.
Sowohl im Hinblick auf die Zugehörigkeit von Mogli, der, als er wieder im Dorf ankommt oft auf allen Vieren läuft und weiterhin im Baum schläft, als auch in Bezug auf den menschlichen Umgang mit dem Dschungel. Der (noch) die Lebensgrundlage für viele Tiere und damit auch für uns Menschen ist.
Astrid Priebs-Tröger
Die Arbeit an diesem Artikel wurde "gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien im Programm NEUSTART KULTUR, Hilfsprogramm DIS-TANZEN des Dachverband Tanz Deutschland."