Baustelle Europa
Mit Wellpappe, Klebestreifen und Kettensäge startete das diesjährige 29. Unidramfestival. In der Waschhausarena lag ein riesiger Papp-Bastelbogen auf dem Bühnenboden und die französische Performerin Phia Ménard, gekleidet wie eine punkige Superheldin, heimwerkte und philosophierte sich durch die europäische (Nachkriegs-)Geschichte.
Und nichts Geringeres als das Athener Parthenon – seit 2500 Jahren zentraler Bau der Akropolis und europäisches Wahrzeichen – wurde hier mit Pappe und Klebestreifen und einigem Kraft- aber auch tänzerischem Körpereinsatz von einer comicartigen Wonder Woman wieder-errichtet.
Doch anstelle mit Schild und Schwert kämpft Ménard mit krachend abreißendem Klebestreifen, immer wieder kippenden Pappwänden und wegklappenden Stützstäben. Aber nach einer Stunde steht die Hütte, die etwa 15 Quadratmeter Grundfläche hat und zwei Meter hoch ist.
In ihrer braunpappigen Gesichtslosigkeit ähnelt sie eher einem Containermodul, das in der heutigen EU für alles Mögliche verwendet wird, als dem berühmten griechischen Bauwerk. Phia Ménard, die "Immoral Tales – Part 1: Mother House" als Performance mit der documenta 2017 in Kassel koproduzierte, sagte dort zu ihrem künstlerischen Konzept:
"Wie Sie habe ich die europäische Konfliktgeschichte geerbt … Eine neue Ära des Chaos ist in Vorbereitung, oder vielleicht hat sie einfach nie aufgehört zu wachsen." Ménard bezieht sich dabei auf Tschernobyl, den Mauerfall, den Patriot Act im Rahmen von 9/11 und das Ende der demokratischen Wahl in Griechenland.
In ihrer Performance sägt sie schließlich unter ohrenbetäubendem Lärm mit der Kettensäge viele Längstreifen in die Seitenwände des Riesenkartons und bricht die Räume zwischen den entstehenden Säulen aus. Für kurze Zeit gleicht der improvisierte Bau seinem antiken Vorbild, erinnert kurz an dessen Würde und Größe.
Doch dann fängt es an, wie aus Kannen zu schütten und innerhalb weniger Minuten sackt der imposante Tempel in sich zusammen. Was für ein Bild, was für eine Metapher für die heutigen gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen in Europa, die lange vor dem Ukrainekrieg begannen.
Phia Ménard seziert in "Mother House" auch die moderne "Idee" Europas, die nach den Flächenbombardements der Alliierten im 2. Weltkrieg und dem folgenden US-amerikanischen Marshallplan begann. Mit ihren "Immoral Tales" fragt sie sowohl nach den ideellen Werten dieser Gemeinschaft als auch nach dem Baumaterial, aus dem diese entstand.
Und man verspürt in dieser fulminanten One-Woman-Show nahezu körperlich sowohl die menschliche Größe als auch die gleichzeitige Hybris, als dieses kulturelle Bauwerk den Natur- und den akustisch auch assoziierten Kriegsgewalten zum Opfer fällt. Und alles im Wasser beziehungsweise im Nebel verschwindet.
ZUHAUSE ist das Motto und der Assoziationsraum, in dem sich das diesjährige Programm von UNIDRAM bewegt. Und: das Ruinenfeld oder die Baustelle, die Phia Ménard am Eröffnungsabend hinterlassen hat, wirkte anfangs total verstörend, im Ganzen jedoch nicht vollkommen hoffnungslos.
Astrid Priebs-Tröger