Bleigewichte an den Füßen
Das Kinderstück "Die Biene im Kopf" malt eindringliche Szenen aus einer modernen Kinderhölle und zeigt, wie viel Kraft ein "Außenseiter" hat.
Es ist seltsam, wenn in einer Kindertheaterpremiere nur Erwachsene im Publikum sitzen. Doch bei dem Stück "Die Biene im Kopf" von Roland Schimmelpfennig, das in der Reithalle des HOT zur Premiere kam, war es – hier Corona bedingt – eigentlich konsequent. Denn Schimmelpfennig beschreibt darin eine moderne Kinderhölle, aus der es für den Jungen im Grundschulalter so gut wie kein Entrinnen gibt.
Moderne Kinderhölle, aus der es kein Entrinnen gibt
Dieses Einzelkind lebt bei seinen langzeitarbeitslosen Eltern, die den Tag verschlafen und ansonsten Alkohol trinken und fernsehen. Niemand kümmert sich darum, den Jungen zu wecken, ihm ein Frühstück oder eine andere Mahlzeit zu bereiten oder seine Wäsche zu waschen. Er ist völlig auf sich allein gestellt. Szenen aus Erich Kästners "Pünktchen und Anton" kommen einem dabei in den Sinn und doch spürt man sofort, das diesem Jungen noch etwas ganz Wesentliches fehlt: nämlich leibhaftige Freunde.
Obwohl in Schimmelpfennigs Stück und auch in der dichten, einfühlsamen und berührenden Inszenierung von Alexandra Wilke gleich drei Kinder mal schwungvoll, mal melancholisch, mal kämpferisch und auch humorvoll durchs Bild toben. Doch sie alle sind (nur) Stimmen im Kopf des Jungen, die mal in der Ich‑, Du- oder Wir-Form ihre Ängste und Sehnsüchte eindringlich ins Publikum senden.
Mittels eines Computerspiels allen bedrohlichen Situationen entkommen
Und noch einen Kunstgriff gibt es in "Die Biene im Kopf". Die Geschichte des namenlosen Jungen wird collageartig und unter Zuhilfenahme von Computerspielelementen erzählt. In einem fantastischen Tagtraum, kurz vor seinem verspäteten Aufstehen, verwandelt er sich in eine Biene, die mit ihren Flügeln allen irgendwie bedrohlichen Situationen entkommen kann. Diese originelle Idee, die durch eine virtuelle Graphic Novel von Franziska Junge bildlich unterstützt wird, wird ihm helfen, auf sechs, unterschiedlich schweren Levels durch seinen einsamen, belastenden und existenziell bedrohlichen Alltag – immer wieder ist Hunger ein Thema – zu kommen.
Der wie ihn viel zu viele Kinder und Jugendliche betrifft. Mehr als jedes fünfte Kind wächst laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung in Deutschland in Armut auf. Das sind fast drei Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Und jedes "arme" Kind ist eines zu viel, zumal Kinderarmut immer und zuerst Erwachsenenarmut bedeutet. Insofern sollten diese Inszenierung viele Erwachsene sehen, da die nackten Zahlen hier eine bedrückende emotionale Komponente bekommen, die jeden einigermaßen mitfühlenden Menschen zum Handeln zwingen sollte.
Woher das "Anderssein" kommt und was wir tun können
Doch auch für Kinder – ab 9 Jahren – ist dieses Stück wichtig, denn in beinahe jeder (Grundschul-)Klasse gibt es Schüler, die von anderen gemobbt oder ausgegrenzt werden, die nicht dazugehören, weil sie schon äußerlich "anders" sind: weil sie oft zu spät kommen, kein Frühstück dabei haben, ihre Sachen schäbig oder ihre Arbeitsmaterialien unvollständig sind.
"Biene im Kopf" zeigt ihnen, den anderen, eindringlich, woher dieses "Anderssein" rühren kann. Und das Wichtigste am Stück und an der empathischen Inszenierung ist, dass sie den Blick dafür öffnen, dass Kinder, die mit solchen Bleigewichten an ihren Füßen oft sehr viel Kraft und Potenzial haben, ihren Alltag dennoch zu bewältigen. Und dass man gerade sie in der Gruppe nicht ausgrenzen, sondern einbeziehen und unterstützen könnte. Beispielsweise mit einem geteilten Pausenbrot oder einem gemeinsam verbrachten Nachmittag. Doch das Eigentliche – die Veränderung der sozialen Verhältnisse – können wie bei Kästner – wie immer nur die Erwachsenen tun.
Astrid Priebs-Tröger