Der marktgerechte Mensch
Vor zwei Jahren kam ihr Film "Der marktgerechte Patient" in die Kinos. Jetzt haben Leslie Franke und Herdolor Lorenz in "Der marktgerechte Mensch" die neoliberal-flexibilisierte Arbeitswelt kritisch unter die Lupe genommen.
Am stärksten aus "Der marktgerechte Mensch" bleiben die prägnanten Bilder der Performance "1000 Gestalten", die 2017 während des G20-Gipfels durch Hamburg zogen, in Erinnerung. Denn diese Menschen, deren Gesichter, Hände und Anzüge von bröckelndem grauen Lehm überzogen waren, und die sich langsam und einförmig durch die Straßen der finanzkräftigen Hansestadt bewegten, erinnerten eindrucksvoll (auch) an die "gesichtslose Masse" arbeitender Menschen.
Einerseits. Andererseits zeigen Franke und Lorenz in ihrem Film, dass es diese "Masse" gar nicht (mehr) gibt, sondern dass immer mehr Menschen ihre Arbeitskraft als Einzelkämpfer* innen auf dem so genannten Arbeitsmarkt verkaufen müssen. Dessen oberstes Credo "More. Faster." lautet. Und der im Zuge der Globalisierung und Digitalisierung kaum noch Grenzen in Raum und Zeit kennt.
Auf so genannten Klick- bzw. Crowdworking-Plattformen kann Mensch seine Arbeitskraft per Mausklick weltweit anbieten und verkaufen. Auf seinem "Workplace" bekommt er kleine freiberufliche (unversicherte) Jobs angeboten, die er zu einem vorher festgelegten Honorar abarbeitet. Wer nicht davon leben muss, kann sich damit einen Zuverdienst erwirtschaften. Anders sieht es aus, wenn man auf solche Jobs wirklich angewiesen ist. Dann sitzt man Tag und Nacht am Rechner, immer auf der Suche nach einem neuen Micro-Job und per Webcam wird überwacht, wie schnell Mensch z. B. schreibt.
Während der Arbeitsmarkt seit der Finanzkrise 2008 weltweit im Umbruch ist, haben anfangs vor allem junge Menschen zu spüren bekommen, was die ungebremste Flexibilisierung ihnen abverlangt. Egal, ob sie als Fahrradkuriere für die damals wie Pilze aus dem Boden schießenden Lieferservices unterwegs waren oder für 10 Stunden pro Woche als Verkäufer*innen bei H&M aushalfen. Für viele von ihnen war das ein willkommener Zuverdienst, den sie während ihrer Studienzeit brauchten. Doch danach, so glauben immer noch viele, winkt eine (un-)befristete Anstellung mit geregelten Arbeitszeiten, Aufstiegsmöglichkeiten und auskömmlichen Löhnen.
Doch Leslie Franke und Herdolor Lorenz entzaubern in der "Der marktgerechte Mensch" auch diesen Mythos und das Heils-Versprechen des Kapitalismus, das "jeder seines Glückes Schmied" ist. Denn sie porträtieren auch Menschen, die in der hochspezialisierten modernen Arbeitswelt alles gegeben haben, und trotzdem oder gerade deswegen, ausbrannten und letztendlich einfach "entsorgt" wurden. Oder diejenigen, die im akademischen Mittelbau unserer Hochschulen zwar den Großteil der anfallenden Lehrtätigkeiten leisten aber dafür hundsmiserabel entlohnt werden und nur mit zusätzlichen Hartz IV-Leistungen über die Runden kommen. In der Hoffnung, irgendwann aufzusteigen und eine Professur zu erlangen.
Einige spüren jedoch, dass die gewollte Vereinzelung im erbitterten Konkurrenzkampf ein Teil des Problems ist, und beginnen, sich mit anderen zusammenzuschließen. Auch das zeigt "Der marktgerechte Mensch" und er beweist mit seiner Existenz – er wurde von hunderten Spender*innen "von unten" vorfinanziert – dass eine Menge gemeinsam etwas bewegen kann. Genauso wie die "1000 Gestalten", die am Ende ihrer symbolkräftigen Straßenperformance ihre grauen Jacken ausziehen und in bunter, ungepanzerter Vielfalt und Individualität erstrahlen.
Astrid Priebs-Tröger