Der Weg ist das Ziel
Ungewöhnlich akrobatisch beginnt die "Odyssee" beim Theater Poetenpack. Eine junge Frau, mit Brille, geflochtenen Zöpfen und Rollschuhen an den Füßen schlägt unversehens auf der Bühne ein Rad. Kurz darauf ruft sie "Mama" und fällt dieser sogleich um den Hals. Erst da bemerkt man, dass diese artistische Einlage noch gar nicht zur Inszenierung gehört, sondern von der Protagonistin mit Down-Syndrom mal eben so aus Lust und Laune auf die Bretter, die die Welt bedeuten, gestellt wurde.
Gerade kam die erste Inszenierung der inklusiven Bürgerbühne, die das Potsdamer Theater Poetenpack in diesem Jahr ins Leben gerufen hat, im lauschigen Q‑Hof in Potsdam West zur Premiere. Und siebzig Minuten lang standen sechzehn sehr verschiedene Schauspielerinnen und Schauspieler auf der Bühne, die rund um einen Baum gebaut war: Junge und Alte, Kleine und Große, Kräftige und Schlanke, Menschen mit und ohne Behinderung, neben Geflüchteten und Menschen, die schon lange in Potsdam wohnen. Menschen wie du und ich eben.
Menschen wie Du und Ich stehen auf der Bühne
Sie alle eint die Lust am Theaterspielen. Das ist von Beginn an zu spüren, denn schließlich haben sie viele Probenwochen, mehrere Wochenenden und eine ganze Endprobenwoche gemeinsam hinter sich gebracht, um dort oben zu stehen und als Gefährten des listenreichen Odysseus zwei Jahrzehnte mit ihm unterwegs zu sein. Wenn sie nicht als weißgekleideter Chor im Hintergrund agieren, dann verkörpern sie abwechselnd den Haupthelden selbst oder seine Gattin Penelope oder den gemeinsamen Sohn Telemachos. Sie sind aber auch Menelaos, der Odysseus kurzerhand in den Trojanischen Krieg mitnimmt, oder der Gott Poseidon, der ihm zürnt, die verführerische Nymphe Calypso, der Seher Theresias oder die liebestolle Zauberin Kirke. Die Geschichte wird insgesamt mit leichter Hand, oft slapstickhaft erzählt.
Die wunderbar unterschiedlichen Protagonisten sind in ihr aber mehrmals auch ganz bei sich selbst, als sie in dem integrativen Theaterprojekt unter der Regie von Kai Schubert und der musikalischen Leitung von Annegret Hueck Raum bekommen, von ihren individuellen Lebensreisen und Odysseen zu erzählen. Wie die Frau, die als Achtjährige im Krankenhaus verschwand und deren Mutter Jahre brauchte, um sie wieder nachhause zurück zu holen. Oder die Frau, die nach ihrer Diagnose alles daran setzte, wieder selbstständig laufen zu können. Oder der junge Afghane, der lange brauchte, um wirklich in Potsdam anzukommen. An diesen Stellen geht die altbekannte mythische Geschichte – ergänzt um die persönlichen – richtig unter die Haut.
Die mythische Geschichte – ergänzt um die persönlichen – geht unter die Haut
Insgesamt werden diese beiden Stränge der Inszenierung durch fast ein Dutzend musikalische Einlagen – von Händel bis Rammstein – zusammengehalten, denn schon im Probenprozess stellte sich heraus, dass die Einen lieber sangen und musizierten und die Anderen dem Theaterspiel den Vorzug gaben. Wunderbar kraftvoll ist indes die Gruppenpercussion im ersten Drittel und abermals berührend der Schlusssong "Die Reise ist das Ziel", der von einer Mitwirkenden selbst geschrieben wurde, genauso wie der Wellen-Rap, der Odysseus auf seiner letzten Reiseetappe stürmisch umweht.
Beim Singen und vielen anderen Dingen wird deutlich, dass hier keine auf Teufel-komm-raus-perfekt-Haltung gelebt wird – das ist sehr wohltuend. Und: das Helfen/die Hilfe sind sichtbar, beispielsweise, wenn mittendrin einer Frau die Hand gereicht wird, damit sie die Bühne verlassen kann. Anderer-seits hatte man an einigen Stellen doch Probleme, die Schauspieler akustisch überhaupt zu verstehen. Gerade Open Air-Vorstellungen und lange Texte sind nicht nur für Laien eine besondere Herausforderung.
Wohltuend: Keine auf Teufel-komm-raus-perfekt-Haltung
Konstituierend ist indes die Familien-Geschichte. Odysseus unfreiwillige Reise, sein Wunsch, endlich wieder nach Hause zu kommen. Was ist zuhause, was Heimat, was Ankommen? Fragt dann auch immer wieder der vielstimmige Chor – um auch darauf sehr gegensätzliche Antworten zu geben. Eine weitere tragende Rolle ist die seiner Frau Penelope, die zwanzig Jahre auf ihn warten will/muss. Doch auch zum Ende hin in einem imaginären Zwiegespräch rotzig-verzweifelt mit ihrem Mann ins Gericht geht. Nachvollziehbar auch, wie sie immer wieder die Geduld des jungen Sohnes beschwört, bis der sich schließlich doch auf den Weg macht, den Vater zu suchen. In dieser Dreier-Konstellation war auch das gute Zusammenspiel von Laien und Professionellen wie Rüdiger Braun zu spüren, der ansonsten zum Ensemble des Potsdamer Theaterschiffs gehört.
Und zu guter Letzt: eine wiedervereinte Familie und sichtbar glückliche Protagonisten, die sich auch sehr herzlich bei den Theaterleuten vom Poetenpack bedankten. Mit Blumen und noch einem perfekten Radschlag.
Astrid Priebs-Tröger