Die Sonne kackt
Bunte Luftballons weisen den Weg zum Aufführungsort. Und anders als sonst, sind es überwiegend Kinder, die im Foyer der fabrik auf den Beginn der Vorstellung warten. Die Jüngsten sind zwei, die Ältesten etwa zwölf Jahre alt. Doch wie soll das gehen, so verschiedene Altersgruppen gemeinsam für modernen Tanz zu begeistern?
Erst einmal ist es stockdunkel auf der großen Bühne, bis einzelne kleine Lichtpunkte erscheinen. Sind es Sterne? Oder Taschenlampen? Oder wohnt man gar einer Glühwürmchen-Party bei? Die Performance "Eine Geschichte der Welt" von Dennis Deter und Lea Martini, die jetzt als erste Explore Dance-Produktion mit Beteiligung von Potsdamer Grundschülern entstand, zielt von Anfang an auf Mehrdeutigkeit des Gezeigten und die Fantasie der Zuschauenden.
Beispielsweise, wenn kurz darauf aus der Finsternis drei total schwarz gekleidete Gestalten auftauchen, bei denen weder Gesichter noch Hände oder Füße zu sehen sind. Erst als sie ihre Gesichter und jeweils die rechte Hand freilegen, wird erkennbar, dass sich dort zwei Frauen und ein Mann bewegen.
Mehrdeutigkeit des Gezeigten
Gleich zu Beginn geben die Performer ein einprägsames Muster vor. Sie sagen und zeigen "Das ist ein Tänzer" und "Das ist ein Theater", bis auch dem Letzten klar ist, hier geht es immer ums Konkrete und dann ums Abstrakte, oder erst ums Kleine – z. B. einen Baum – dann ums Große – z. B. alle Ikea-Möbel aus Holz. Und: mit geschlossenen Augen lässt sich eigentlich alles imaginieren.
Um sich dann unumwunden den ganz großen Fragen, die auch schon Vierjährige bewegen, zu stellen. Denn "Eine Geschichte der Welt" fragt nach der Entstehung des Universums. Aber nicht in abstrakten naturwissenschaftlichen Theorien, sondern in wunderbaren Bildern, die sowohl Vier- als auch Vierzigjährige in den Bann ziehen.
Aus einem riesigen Pappkarton werden zwei Dutzend farbige, verschieden große Ballons und Kugeln auf dem schwarzen Bühnenboden verteilt. Wenig später springen noch unzählige kleine Bälle – wie Sterne oder frisches Popcorn? – wie von Zauberhand bewegt aus dem Karton und fertig ist das, ein vielfarbiges Bild vom Sonnensystem.
Fantasie der Zuschauenden
Dessen Zentrum erscheint wenig später als ein auf nackten Füßen tanzender, riesiger plüschiger, grauer Ball und er/sie hinterlässt zwischen den gelbschimmernden Sternen und bunten Planeten kleine fellige Häufchen. "Die Sonne kackt", kommentiert eine Vierjährige aus dem Publikum, und wenig später meint ihre Freundin, "dass das die Küken der Sonne" seien.
Dieses "Sonnentier" vollführt, bevor es endgültig im Bühnenhimmel landet, noch ein ziemlich flottes Tanzsolo zwischen dem ganzen Bälle-Sternen-Planeten-Chaos, bevor ein riesiger Besen und drei, mit ihren rundlichen Figuren an die Teletubbies erinnernde, bunte Kerlchen auftauchen. Die – nach getaner Aufräumarbeit – beinahe hiphopartig tanzen.
Dazwischen – fast scheint es, als passiere alles gleichzeitig – tauchen noch andere seltsame Wesen mit mehrfach verklumpten, überdimensionierten Köpfen beziehungsweise ein Rüsselschwanztier, das der der Fantasie von Hieroymus Bosch entsprungen sein könnte, aus der Dunkelheit auf. In der dann schließlich – nur mit einem silbrigen Seidentuch imaginiert – noch eine poetische Version der Entstehung der Welt, die an die berühmte finnische Kalevala angelehnt ist, erzählt wird. Die von großen Wassern, einem Knie, einer Ente und ihren sieben Eiern – sechs goldenen und einem Fellei – handelt. Aus deren Einzelbestandteilen schließlich die Sonne, der Mond und die Erde entstehen.
Poetische Version von der Entstehung der Welt
Wie gut, dass es auch solche poetischen Weltentstehungsmythen gibt. Und dass sie immer wieder auf dem Theater erzählt werden. Um in dieser Produktion im selben Moment klar zu machen, dass dies nur eine von vielen Geschichten sei. Denn die nächste Erzählung, deren Beginn sich nahtlos anschließt, handelt von einer riesigen Wüste, aus der ebenfalls die/unsere Welt entstanden sein könnte. Summa summarum: Eine wunderbar sinnliche Einladung zu Offenheit, Fantasie und eigenem Denken.
Astrid Priebs-Tröger