Die Stadt hören, sehen, riechen, fühlen
Normalerweise würde ich auf der Verkehrsinsel – eingerahmt von drei Straßen und von Glascontainern – niemals sitzen. Doch die Potsdamer Tanztage mussten sich wegen Corona schon im April von der Normalität verabschieden. Und haben für ihre Interimsausgabe gleich mehrere ungewöhnliche Formate im Angebot. "Fremdgehen – eine choreografische Stadterweiterung" der Berliner Choreografin Sabine Zahn ist eine von ihnen.
Auf besagter Verkehrsinsel in der Yorkstraße höre ich als erstes die Geräusche des gerade abklingenden Feierabendverkehrs: An- und abfahrende Autos, zwei Männer mit Pizzakartons auf den Händen rufen einem dritten über die Kreuzung etwas zu, aus einem Autoradio klingt scheppernd, wahrscheinlich türkische Musik. Und in der Rotphase, in der einen Moment lang kein Auto dort steht, auf einmal wohltuende Stille und lautes Vogelgezwitscher – mitten in der Landeshauptstadt.
Daniel Belasco Rogers empfängt mich hier und rät mir, in der kommenden Stunde alle meine Sinne zu nutzen, denn dies sei die eigentliche Performance, die in insgesamt 32 Einzelführungen während der Tanztage exklusiv eins zu eins stattfindet.
Erst einmal gehen wir weiter in Richtung Filmmuseum. Aus den Mülltonnen am Weg stinkt es wie sonst in der Sommerhitze in südlicheren Ländern, wenig später kitzelt duftender Lavendel meine Nase. Von vorn ertönt schrill eine Notarzt-Sirene. Und unter einem Baugerüst liegen jede Menge Fastfood-Verpackungen. Erst jetzt realisiere ich, dass der Rohbau gegenüber dem Achteckhaus bereits hochgezogen ist.
Die Potsdamer Synagoge hingegen wartet schon lange auf den nächsten Spatenstich. Wir steigen direkt in die Baugrube. Gelbe Königskerzen, blauer Natternkopf und weiße Schafgarben haben das unwirtliche Terrain besiedelt. Bei deren zauberhaftem Anblick mich dennoch ein seltsames Gefühl beschleicht. Wie war das mit dem "Gras darüber wachsen lassen" wirklich gemeint? Für einen Moment ploppt die Erinnerung an die umstrittene Aktion des Zentrums für Politische Schönheit vom Dezember 2019 in mir auf …
Einen Hauch von Geschichte spüre ich auch hinter dem Filmmuseum. Wir stehen unter dem erdrückenden Umhang des preußischen Offiziers Friedrich Wilhelm von Steuben. Bei "Fremdgehen" geht es um das Ertasten, Erfühlen, Erfahren von Architektur – und die Frage "Wie fühlt sich deine Stadt an?", die Daniel mir kurz darauf auch stellt.
Was macht das mit deinem Körper? Fragt er weiter, als ich die stadtprägenden Sichtachsen und die vielen Ecken und Kanten Potsdams beschreibe. Dazwischen eine kurze Selbstvergewisserung: Vor allem das allgegenwärtige Wasser und das viele Grün lassen mich hier schon fast drei Jahrzehnte leben.
Auch der Verkehr auf der Breiten Straße ist im Fluss. Mir ist er zu laut, beinahe gewalttätig. Schnell weg. Das geht nicht, wenn wir beide nebeneinander rückwärtsgehen. Wenig später sitzen wir an der Kreuzung Dortustraße – den verhüllten Sockel der Garnisonkirche, der sich in seiner klotzigen Präsenz massiv gegen das Rechenzentrum drückt, im Blick. Daniel erzählt mir, dass nach der Fertigstellung ihres Vorgängerbaus 1722 schräg gegenüber der Grundstein für die Königliche Preußische Gewehrfabrique gelegt wurde. Was für historische Kontinuitäten!
Am Rechenzentrum mit dem Militärwaisenhaus im Rücken zeigt er mir einen versteckten Lichtschalter und macht Licht. Und nicht nur das. Das Mosaik von Fritz Eisel besteht außer aus dem berühmten vielfarbigen Glasmosaik auch aus Gittern mit vorgelagerten, quadratischen, blaugesprenkelten Emaille-Platten. Wenn ich mein Ohr an eine von ihnen lege, höre ich eine Tonfolge, die Daniel gerade auf denen daneben improvisiert.
Nach diesem verblüffenden Ausflug bin ich angefüllt mit vielfältigen und zum Teil widersprüchlichen Emotionen. Und werde von jetzt an mit noch wacheren Sinnen durch Potsdam gehen.
Astrid Priebs-Tröger