Einfach Fallenlassen

Als "Simp­le Action" bezeich­net die israe­li­sche Cho­reo­gra­fin Yas­meen God­der ihr Pro­jekt, mit dem sie jetzt bei den Pots­da­mer Tanz­ta­gen gas­tier­te. Ein­ge­la­den wur­de zum ers­ten Mal in einen sakra­len Raum, in die Alte Kir­che am Neu­en­dor­fer Anger, und es hät­te kei­nen bes­se­ren Ort dafür geben können.

Das lich­te, acht­ecki­ge Gebäu­de wur­de erst kurz vor Beginn für die etwa drei­ßig Zuschau­er* innen geöff­net und man saß sich, auch dies unge­wöhn­lich, in einem Stuhl­kreis gegen­über. So konn­te man sehen, wer gekom­men war und bemerk­te auch, dass die sechs Tänzer*innen von God­ders Com­pa­gnie eben­falls dort Platz genom­men hatten.

Tanz im sakralen Raum

Plötz­lich erhob sich eine Tän­ze­rin und ging sehr behut­sam auf einen der Zuschau­er zu. Wenig spä­ter nahm sie ihn bei der Hand, ging in die Mit­te des ansons­ten lee­ren Kir­chen­rau­mes und besprach mit ihm, was gleich pas­sie­ren wür­de. Der gro­ße schlan­ke Mann leg­te sei­nen Kopf auf die Schul­ter der Tän­ze­rin und bei­de ihre Arme umeinander.

Doch nicht die soge­nann­te, inzwi­schen welt­weit ver­brei­te­te "Free-Hugs-Cam­paign" nahm hier ihren Lauf, son­dern der Mann begann mit­hil­fe der Tän­ze­rin Stück für Stück zusam­men­zu­sa­cken und ließ sich von ihr sanft auf den Boden (be-)gleiten. Dort lag er, der, wie man so sagt,  einen Moment vor­her noch in der Blü­te sei­nes Lebens gestan­den hat­te, und die Tän­ze­rin  saß still – wie eine Kla­gen­de – daneben.

Simp­le Action/Yasmeen Godder/Foto: Tamar Lam

Denn Yas­meen God­ders "Simp­le Action" ist inspi­riert durch das "Sta­bat Mater", das berühm­te mit­tel­al­ter­li­che Gedicht, das von Tomer Dams­ky eine Drei­vier­tel­stun­de lang in der klei­nen Kir­che wun­der­bar gesun­gen und auf ihrer indi­schen Shru­ti­box – einem Har­mo­ni­um ähn­li­chen Instru­ment – live beglei­tet wurde.

Vertrauen und Loslassen

Nach und nach gin­gen auch die ande­ren Tänzer*innen auf die Zuschauer*innen zu und auf dem Stein­bo­den der Kir­che kam (fast) jede*r ein­mal zu lie­gen. Auch ich woll­te die­se Erfah­rung machen und zöger­te doch kurz, als Ofir Yudi­le­vitch mei­ne Hand nahm.

Einen Moment lang schos­sen mir vie­le Gedan­ken und Fra­gen durch den Kopf: Kann ich ihm ver­trau­en? Wer­de ich ihm nicht zu schwer? Ist mein Eng­lisch gut genug, um ihn zu ver­ste­hen? Und so wei­ter und so weiter.

Doch Ofir erspür­te, was ich gera­de brauch­te und beglei­te­te mich gedul­dig, kraft­voll und sanft zugleich, auf den Boden. Auf dem ich dann lag und eine wun­der­ba­re Leich­tig­keit ver­spür­te. Ich öff­ne­te mei­ne bis dahin geschlos­se­nen Augen und blick­te in den gol­de­nen Ster­nen­him­mel über mir.

Simp­le Action/Yasmeen Godder/Foto: Tamar Lam

Was für eine Erfah­rung! Bei mir geschah die­se, weni­ge Wochen nach­dem mei­ne Mut­ter gestor­ben war, und die Trau­er noch in mei­nen Kör­per und Geist ein­ge­schrie­ben ist. Doch schon wäh­rend ihres/des Ster­be­pro­zes­ses hat­te ich erfah­ren, dass das "Ende" auch leicht/erleichternd sein kann.

Stabat Mater als zärtlicher Lebensstrom

Wenn nicht der Weg dahin so "schwer"/so unge­wohnt wäre, denn Fal­len- und Los­las­sen ist (für die Meis­ten) ein­fa­cher gesagt als getan. So tas­te­te ich mich mit Yudi­le­vitch – und ich glau­be, alle ande­ren auch – in die­ses Gefühl, das auf (Selbst-)Vertrauen basiert, hin­ein. Und die­ses wun­der­ba­re, sehr gedehnt gesun­ge­ne "Sta­bat Mater" umfloss uns alle zärt­lich wie ein war­mer (Lebens-)Strom.

Ein­fach wun­der­bar, wie die­se inne­ren Pro­zes­se danach auf den Gesich­tern der jun­gen und älte­ren Teilnehmer*innen ein­ge­schrie­ben waren und wie plötz­lich alle im Raum in einer war­men Gemein­schaft mit­ein­an­der ver­schmol­zen waren.

Astrid Priebs-Trö­ger

 

03. Juni 2018 von admin
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