Geordnet chaotisch
Der gewitterschwangere fünfte Abend der Potsdamer Tanztage gehörte ganz der Performancekunst und wurde ausschließlich von belgischen Künstlern bestritten. In der fabrik traten Miet Warlop aus Brüssel und im T‑Werk der junge Multikünstler Louis Vanhaverbeke aus Gent auf. Und in beiden Vorstellungen entlud sich krachend ein vielfarbig-schillerndes Kunstgewitter aus Musik, Sprache, Objekten, Bildender und Bewegungskunst.
Schon am Eintritt zu Miet Warlops Performance "Fruits of Labor" schwante einem, was kommen könnte. Denn dort bekam man fürsorglich Ohrstöpsel in die Hand gedrückt. Doch erst einmal zeigte sich die bekannte Ruhe vor dem Sturm. Auf der Bühne standen die schwarz-gekleideten Musiker mit dem Rücken zum Publikum. Vor sich, ihre mit weißen Tüchern verhüllten Drumkits. Was wie eine schicke Bar mit Stehtischen wirkte.
Vielfarbig schillernde Kunstgewitter
Und die Chefin selbst drehte sich, mit einem Ganzkörperglitzeranzug bekleidet, minutenlang über der Szenerie wie eine Discospiegelkugel dazu. Dann stieg sie majestätisch grinsend von dem überdimensionierten Kubus herab und die eigentliche Show begann. In der dieser quaderförmige Styroporblock genauso wie ein riesiger weißer Gipsfinger eine herausragende Rolle spielen sollten.
Doch erstmal vibrierten und dröhnten die Schlagzeuge und E‑Gitarren und man fühlte sich eher wie in einem überlauten Rockkonzert als in einer Tanzkunstperformance. Crazy auch die von Warlop verfassten und zum Teil auch selbst vorgetragenen Songs von "Verdammten Blumen", "Peinlich" bis hin zu "Psychose in der Oper".
Doch dieses Gefühl sollte sich bald ändern, denn die quicklebendigen Rockmusiker wuselten zwischen ihren Schlagzeugen neckisch hin und her und zeigten sich später auch als echte Dribbeltalente an künstlerisch gestalteten, schwarz-weißen Bällen. Und als die Show – nach rasanter Stierkampfeinlage und Slapstick artiger Kreuzigung – auf ihren Höhepunkt zuraste, kam, wie um alles ein wenig abzukühlen, jede Menge Wasser (von oben) und kiloweise weißes Pulver, das wie Trockeneis aussah, hinzu. Und ein gebogener Wasserstrahl, der sich immer wieder neu verfärbte.
Und die "Früchte der Arbeit"? Das Publikum war mindestens zweigeteilt. Einige Zuschauer verließen noch vor Ende der knalligen Performance den Saal. Aus einer Ecke gab es begeisterte Bravorufe und von allen anderen mindestens Hochachtung für das perfekt choreografierte Spektakel, das laut Programmzettel die Frage stellte, "ob es eine andere Alternative zur schmucklosen Realität als den Griff nach der Seele der Dinge gibt?"
Flucht und/oder Bravorufe
So chaotisch wie es bei Miet Warlop geendet hatte, so geordnet begann es in "Multiverse" von Louis Vanhaverbeke. Auf der ansonsten leeren Bühne im T‑Werk waren fein säuberlich in einem kleinen Kreis Skateboards, jede Menge Plastikkram – wie Gießkanne, Trichter, Blumensprüher oder Werkzeugkasten – sowie Vinylplatten, Turntables und Drumcomputer aufgestellt.
Und dann kam der sehr große, gerade mal 30-jährige Performer mit einem Bücherstapel und rappte im Angesicht einer weißen Box. "Wir suchen den Moment, der das Jetzt definiert. Wir suchen nach dem Sinn hinter praktisch allen Dingen, um die ganze Existenz zum Ausdruck zu bringen."
So endete sein "Boxie"-Lied und Vanhaverbeeke spielte von nun an beinahe wie ein Kind assoziativ mit all dem Kram, den er da auf dem Boden angeordnet hatte. Mal rannte er dabei wie wild im Kreis, eine aufblasbare Plastikerde im Schlepptau, mal wischmoppte er mit Hingabe den Boden oder briet sich einen duftenden Eierkuchen. Dazwischen war er immer wieder, mal im Schlafanzug, mal im sexy roten Herrenbadeanzug sein eigener DJ.
Multitalent entfachte Wort- und Bildersturm
Der sicht- und hörbar Multitalentierte, der Choreograf, Tänzer, Schauspieler und Musiker in einer Person ist, mixte Rap, Hip-Hop und Spoken Word. Vanhaverbeke tanzte und sang zu seinen Lieblingshits, sampelte, scratchte und vollführte perfekt getimte Stunts. Wie den, als er plötzlich einen roten Plastikkasten zu seiner Unterhose umfunktioniert hatte.
Virtuos bewegte er sich durch sein kleines Multiversum aus Wegwerfartikeln und entfesselte dabei spielerisch und doppelbödig einen veritablen Sturm aus Worten und Bildern. Auch hier Standing Ovations von einem Teil des Publikums und eine gesungene Zugabe vom Belgier, der bestimmt nicht zum letzten Mal bei den Tanztagen zu Gast gewesen sein wird.
Astrid Priebs-Tröger