Körperkult und Utopie
Lauter schöne Menschen! Wohlgestaltet, gesund und nackt. So hängen sie überlebensgroß in der aktuellen Sonderausstellung "Einfach. Natürlich. Leben." im Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte. Die Ideen, Orte und Zeugnisse der Lebensreformbewegung in Brandenburg von 1890 bis 1939 präsentiert.
Plakate mit vegetarischer "Eden"-Kraftnahrung, handgewebte Leinen-Kleidung und die erste Schwulenzeitschrift der Welt sind nur einige Exponate, die in der informativen Show zu betrachten sind. Selbst Bismarck trieben die Folgen von Alkoholismus und das Unbehagen an der eigenen Körperlichkeit in die weit geöffneten Arme der damaligen Naturheilkundler. (*)
Am längsten beschäftigte mich jedoch ein kleines Plakat, das gleich am Eingang hängt. Ein farbiger Cartoon, der links "Das Volk im heutigen Staat" und rechts den "Zukunftsstaat" propagiert. Neben Proletarierelend in über- füllten Großstädten die lichte Vision von "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit".
Die sich hier aus dreistündiger Arbeitszeit, Tanz, Sport und Spiel in der Natur und daraus resultierenden glücklichen Menschen entwickeln sollte. Inklusive Grundeinkommen! Was für eine "schöne" Utopie. Damals waren vor allem Künstler, Intellektuelle und Spinner sowie Vertreter* innen der bürgerlichen Ober- und Mittelschicht mit diesen "natürlichen" Gegenentwürfen befasst. Sie schufen elitäre Freiräume und besaßen zumeist das nötige Kleingeld, um sich diese überhaupt leisten zu können.
Genauso sieht es auch mehr als einhundert Jahre später aus. Gefühlt wachsen seit Beginn der 2000er Jahre an jeder Ecke Heilprakter* innenpraxen und Jogastudios wie Pilze aus dem märkischen Sandboden, kann man in Biosuper- marktketten ökologisch korrekt einkaufen oder in Landkommunen gegen den drohenden Burnout antanzen. Der vor allem die befällt, die heute sehr erfolgreich im Mainstream mitschwimmen.
Doch von "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" weit und breit keine Spur. Und besonders perfide: Gerade naturheilkundliche Ratgeber*innen empfehlen, Wut und andere "negative" Emotionen nicht etwa an der entsprechenden Adresse rauszulassen, sondern das eigene Heil(werden) vor allem im Loslassen und in der "Natur" zu suchen.
Und selbst für das "richtige" Atmen kann frau heute jede Menge Geld ausgeben.
Astrid Priebs-Tröger
(*) Weiterführend ist der Aufsatz von Joachim Radkau: www.zeit.de/zeit-geschichte