Rabenschwarze Schatten

In tie­fer Dun­kel­heit beginnt die Insze­nie­rung "Bran­den­bur­ger Mär­chen", die loka­le Eutha­na­sie­ge­schich­te the­ma­ti­siert. Ein klei­ner Jun­ge erlebt auf einer lan­gen Zug­rei­se, wie zwei Men­schen mit­ten  in der Nacht ver­schwin­den. Was ihn nach­hal­tig erschreckt, schei­nen jedoch weder sei­ne Eltern noch die zahl­rei­chen Mit­rei­sen­den zu bemer­ken. Und es fühlt sich so an, als habe der inzwi­schen alte Mann bis heu­te kei­ne Wor­te dafür.

Eutha­na­sie ist ursprüng­lich die Bezeich­nung für einen aus der Sicht des Ster­ben­den oder sei­ner Ange­hö­ri­gen "guten" Todes. In der Zeit des Natio­nal­so­zia­lis­mus wur­de die­ses Wort euphe­mis­tisch für die sys­te­ma­ti­schen Mor­de an Men­schen mit phy­si­schen oder psy­chi­schen Beein­träch­ti­gun­gen benutzt. Auch in Bran­den­burg an der Havel wur­den von Janu­ar bis Okto­ber 1940 über 9.000 Men­schen im Zei­chen von Eutha­na­sie ermordet.

Lokale Euthanasiegeschichte: Eine Brache wird bearbeitet

Mit­ten in der Stadt. Aus etwa 200 Fens­tern konn­te man – zumin­dest teil­wei­se – die­ses unge­heu­re Gesche­hen beob­ach­ten. Danie­la Klein vom Kul­tur­ver­ein Päwe­sin e. V.  hat nach dem Besuch der Gedenk­stät­te für die Opfer der Eutha­na­sie-Mor­de in Bran­den­burg an der Havel zwei Jah­re lang Zeit­zeu­gen befragt. Sie such­te in den Alten­hei­men der Stadt nach Men­schen, die sich dar­an erin­nern konn­ten und woll­ten. "Sie habe damit eine Bra­che bear­bei­tet", sagt die Geschich­ten­samm­le­rin direkt vor der Vorstellung.

Aus den über 150 anony­men Berich­ten ent­stan­den die "Bran­den­bur­ger Mär­chen", die dies  Gesche­hen in Wor­te zu fas­sen suchen und die unter der Regie von Rei­mund Groß 2017 zur Pre­mie­re kamen. Dabei ent­stand jedoch kein vor­der­grün­dig doku­men­ta­ri­sches Thea­ter, son­dern eine ganz eige­ne Form, die mit­hil­fe von Schat­ten­spiel und Sche­ren­schnit­ten sowie Erzähl­thea­ter und  Live­mu­sik die unmit­tel­ba­re Nähe von Bana­li­tät und Grau­en ein­drück­lich veranschaulicht.

Unmittelbare Nähe von Banalität und Grauen

Zum Bei­spiel im Mär­chen "Die gel­ben Schu­he", das davon erzählt, wie drei jun­ge Frau­en als Sekre­tä­rin­nen in der Eutha­na­sie-Kli­nik arbei­te­ten und alles ver­su­chen, das tota­le Aus­gangs­ver­bot zu umge­hen, um nach der "lang­wei­li­gen aber gut bezahl­ten Arbeit" abends im gegen­über­lie­gen­den Lokal tan­zen zu gehen.  Was  auf der Büh­ne wie ein Slap­stick anmu­tet, war nicht nur für sie lebensgefährlich.

Wäh­rend in die­ser Sze­ne die nai­ve Sorg­lo­sig­keit der jun­gen Frau­en the­ma­ti­siert wird, steht in "Tan­te Lott­chen" die Prot­ago­nis­tin vor der exis­ten­zi­el­len Ent­schei­dung, den tot­ge­weih­ten Kran­ken heim­lich wei­ter zu hel­fen oder die eige­ne Fami­lie durch die schwe­re Zeit zu ret­ten. In die­sem  Zwie­spalt ste­cken auch die Prot­ago­nis­ten in "Holz­bein­chen" und "Pater­damm".

Die durch­gän­gig holz­schnitt­ar­ti­ge Erzähl­wei­se ermög­licht kon­ge­ni­al, das his­to­ri­sche Gesche­hen emo­tio­nal direkt ins Heu­te zu ver­län­gern. Die Angst, die Woh­nung oder die Arbeit zu ver­lie­ren, lässt auch heut­zu­ta­ge Man­chen Din­ge tun, die er ohne Not nicht tun wür­de. Die groß­for­ma­ti­gen Sche­ren­schnitt­bil­der von Nina Braun rücken das Gan­ze einer­seits mär­chen­haft weit weg und holen es ande­rer­seits sehr dicht heran.

Märchenhaft weit weg und doch ganz nah dran

Groß­ar­tig auch, wie Bar­do Hen­ning auf sei­nem Akkor­de­on mit Tan­go-Moti­ven und Schla­gern der 1940er Jah­re die Mär­chen-Col­la­ge zusam­men­hält und atmo­sphä­risch ver­dich­tet. Es läuft einem kalt den Rücken hin­un­ter, wenn er "Ganz lei­se kommt die Nacht aus wei­ter Fer­ne" anstimmt und der an sich harm­lo­se Schla­ger in die­sem Kon­text eine grau­si­ge Dop­pel­bö­dig­keit entfaltet.

Es ist auch wun­der­bar gelun­gen, Schau­spiel­pro­fis wie Ger­not Frisch­ling und Rei­mund Groß gemein­sam mit drei Lai­en­schau­spie­lern aus Bran­den­burg auf­tre­ten zu las­sen. Und die soge­nann­ten klei­nen Leu­te wer­den gera­de durch die Ama­teu­re unge­mein glaub­haft verkörpert.

Astrid Priebs-Trö­ger

09. Dezember 2017 von admin
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