Wellen, Haare und menschliche Odysseen
Wie ein Fremdkörper ragt die klobige Open-Air-Bühne des Waschhauses die meiste Zeit des Jahres ungenutzt gegenüber der fabrik in der Schiffbauergasse auf. Doch jetzt hat die Potsdamer Choreografin Anja Kozik in Zusammenarbeit mit dem Studio für audiovisuelle Kunst Xenorama, ausgerechnet in dieser dunklen und kalten Corona(jahres)zeit, diesem funktional-gigantischem Bauwerk neues künstlerisches Leben eingehaucht.
"EX.POSE – A cycle of human odysseys" heißt ihr performatives Gemeinschaftsprojekt, das jetzt allabendlich von 18.30 bis 22 Uhr auf den halbtransparenten Projektionsflächen, die rund um die Pfeiler der Bühne gespannt sind, besichtigt werden kann. Umsonst und draußen und ohne lästige 3‑G-Regeln.
Allein schon deshalb ist es in diesen kunst- und lebensfeindlichen Zeiten jede Erwähnung wert. Dieser "Zyklus menschlicher Odysseen" ist nur 12 Minuten lang beziehungsweise kurz und doch erzählt er mittels gelungener Verschmelzung von Tanz, Musik, Film und grafischen Elementen, zwischen welchen Polen sich menschliches Leben abspielen kann.
Aus den ruhigen Wellen ganz am Anfang taucht eine dunkel gekleidete Frau mit unendlich langen, wallenden Haaren auf. Kurz darauf begeben sich erst (ihre) eine und dann weitere Hände suchend in den dunklen Raum. Später ist das Gesicht der Tänzerin Raha Nejad in Großaufnahmen zu sehen.
Und während sie mit ihren geschmeidigen Bewegungen weiterhin spielerisch tastend im dunklen Raum unterwegs ist, erscheinen immer wieder weiße geometrische Formen und Muster, die gefühlt ihren Spielraum erheblich einschränken. Sie setzt sich mit expressiven Gesten zur Wehr, versucht kräftig, ihren Platz zu behaupten.
Doch schließlich fließen ihre Haare und ihre Gestalt – wie unter Wasser geraten – auseinander, sie scheint schwerelos zu schweben im streng schwarz-weiß gehaltenen Raum, aus dem Blasen – oder sind es Sterne? – aufsteigen und kurz darauf beginnt der Zyklus von vorn.
Wie in einer Traumsequenz tauchen später vor dem eigenen inneren Auge immer noch Bilder auf: die wallenden Frauenhaare, Zeichen von Schönheit und Kraft, verwandeln sich in eine Hydra, dies vielköpfige Ungeheuer der griechischen Mythologie. Oder die kämpfende Frau schreit plötzlich in der klaustrophobischen Enge der sie erdrückenden Linien grell.
Atmosphärisch verdichtet wird die imposante Performance durch die eigens dafür entwickelte Musik des Kontrabassisten Marcel Siegel. Und nach den wenigen Augenblicken des Kunstgenusses wünscht man sich, dass sie der Ausgangspunkt für ein größeres Gemeinschaftsprojekt der beteiligten Künstler*innen werden.
Last but not least: man merkt nicht nur mit dieser Arbeit, wie viel Potenzial auch noch anderen Orten des Kulturquartiers innewohnt und wie sie mit produktiven künstlerischen Synthesen (endlich) zum Leben erweckt werden könnten.
Astrid Priebs-Tröger
Bis 25. März täglich von 18.30 bis 22 Uhr, Freilichtbühne Schiffbauergasse
Die Arbeit an diesem Artikel wurde "gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien im Programm NEUSTART KULTUR, [Hilfsprogramm DIS-TANZEN/ tanz:digital/ DIS-TANZ-START] des Dachverband Tanz Deutschland."