Zeit für Visionen
Ein erfrischendes Lüftchen über dem Tiefen See, ein orangeroter Vollmond und kühle Drinks in Liegestühlen: Auch am Donnerstagabend fühlte es sich sommerleicht und eher vergnüglich an, auf der Seebühne hinter dem Hans Otto Theater zu sitzen.
Doch die Premiere von "Eines Nachts" der Oxymoron Dance Company unter der Regie von Anja Kozik ist alles andere als leicht verdauliches Sommertheater. Das beginnt, als die fünf jungen Tänzer:innen die leere Bühne betreten, fragmentarische Bild- und Textfluten von Cecile Weselowski ohne Unterlass über die weiße rückwärtige Leinwand zu rauschen beginnen. Überbordende Bilder- und Textwelten.
Immer wieder Meer, ein Raumschiff-Wrack, der Altarraum einer Kirche, griechische und italienische Buchstaben und Wortketten, zumeist unverständlich. Die Tänzer:innen verschwinden beinahe hinter diesen Projektionen und man ist total überfordert, Sinnzusammenhänge zwischen den Worten und Bildern herzustellen oder auch die Tänzer:innen nur zu verorten.
Sind sie eine Gruppe Geflüchteter, gestrandet auf griechischen Inseln? Oder einfach junge Leute, die wie wir alle tagtäglich mit einer Unmenge an Informationen zugeballert werden und die Durchsicht verloren haben?
Die Stimmung, zu der auch die Musik vom Künstlerkollektiv um die Musiker Modem&Acoid beiträgt, ist bedrückend, mal chaotisch, beinahe alptraumhaft. Die Bewegungen der Tänzer:innen wirken fragmentiert, manchmal scheinen sie wie Marionetten an Fäden zu hängen. Plötzlich ändert sich die Perspektive – man erhascht aus einem Flugzeug einen Blick auf eine der (Ferien-)Inseln. Die rückwärtige Leinwand fällt auf den Boden und jetzt stehen die Tänzer:innen auf Potsdam schönster Freilichtbühne fast nur im Licht des sich im See spiegelnden Mondes.
Und als wäre das zu viel "Idylle", flackern sofort drei kleinere Bildschirme am Vorderrand der Bühne auf und auf dem mittleren werden Textfragmente des avantgardistischen Lyrikers Rolf Dieter Brinkmann zitiert: "Erfasst ein Stil das Leben westwärts?" oder auch Lessings "Ja, auch hier sind Götter …"
"Just a Revolution" ist Anja Koziks Jahresmotto für 2022 – sie hat sich im Zuge dessen mit Texten von Ernst Bloch beschäftigt, dem, wie sie sagt, Tagträume sehr wichtig waren. In "Eines Nachts" sind diese durch die permanente Reizüberflutung und die Bild- und Text-Komplexität lange nicht möglich. Und auch das Spüren der Energien des Anderen und das in Resonanz-Gehen – für Tänzer:innen essentiell – nicht machbar.
Eine Klasse-Idee dieser Inszenierung ist der Umgang mit der auf den Boden gefallenen weißen Projektionsgaze. Die jungen Tänzer:innen, mit denen Anja Kozik zum ersten Mal zusammenarbeitete, nehmen sie immer wieder auf. Mal ist sie Behausung, dann wieder fragmentierte Projektionsfläche, auch Labyrinth und schließlich Fahne, die ihnen voranweht.
Und ihre Vision eindeutig fühl- und sichtbar macht: bei sich selbst sein/bleiben und gleichzeitig auf den anderen zugehen. Xenia Argyri, James Becker, Alessia D’Isanto, Joshua Nsubuga und Veronica Lillo "erkennen" das am Ende und beginnen erst jetzt als Gruppe zusammenzuwachsen.
Und man kann dies auch als Idee für die Europäer:innen – vertreten durch die griechische, italienische, französische Sprache in der Performance – lesen, die in den gegenwärtigen und bevorstehenden Krisen wahrhaftig zusammenwachsen müssten.
Astrid Priebs-Tröger
Nächste Vorstellung am 19. August, um 22 Uhr, Seebühne des HOT
Die Arbeit an diesem Artikel wurde "gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien im Programm NEUSTART KULTUR, [Hilfsprogramm DIS-TANZEN/ tanz:digital/ DIS-TANZ-START] des Dachverband Tanz Deutschland."