Körperkult und Utopie

Lau­ter schö­ne Men­schen! Wohl­ge­stal­tet, gesund und nackt. So hän­gen sie über­le­bens­groß in der aktu­el­len Son­der­aus­stel­lung "Ein­fach. Natür­lich. Leben." im Haus der Bran­den­bur­gisch-Preu­ßi­schen Geschich­te. Die Ideen, Orte und Zeug­nis­se der Lebens­re­form­be­we­gung in Bran­den­burg von 1890 bis 1939 präsentiert. 

Pla­ka­te mit vege­ta­ri­scher "Eden"-Kraftnahrung, hand­ge­web­te Lei­nen-Klei­dung und die ers­te Schwu­len­zeit­schrift der Welt sind nur eini­ge Expo­na­te, die in der infor­ma­ti­ven Show zu betrach­ten sind. Selbst Bis­marck trie­ben die Fol­gen von Alko­ho­lis­mus und das Unbe­ha­gen an der eige­nen Kör­per­lich­keit in die weit geöff­ne­ten Arme der dama­li­gen Naturheilkundler. (*)

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Foto: Phil­ipp Wiebe_pixelio.de

Am längs­ten beschäf­tig­te mich jedoch ein klei­nes Pla­kat, das gleich am Ein­gang hängt. Ein far­bi­ger Car­toon, der links "Das Volk im heu­ti­gen Staat" und rechts den "Zukunfts­staat" pro­pa­giert. Neben Pro­le­ta­rie­r­elend in über- füll­ten Groß­städ­ten die lich­te Visi­on von "Frei­heit, Gleich­heit, Brüderlichkeit".

Die sich hier aus  drei­stün­di­ger Arbeits­zeit, Tanz, Sport und Spiel in der Natur und dar­aus resul­tie­ren­den glück­li­chen Men­schen ent­wi­ckeln soll­te. Inklu­si­ve Grund­ein­kom­men! Was für eine "schö­ne" Uto­pie. Damals waren vor allem Künst­ler, Intel­lek­tu­el­le und Spin­ner sowie Ver­tre­ter* innen der bür­ger­li­chen Ober- und Mit­tel­schicht mit die­sen "natür­li­chen" Gegen­ent­wür­fen befasst. Sie schu­fen eli­tä­re Frei­räu­me und besa­ßen zumeist das nöti­ge Klein­geld, um sich die­se über­haupt leis­ten zu können.

Genau­so sieht es auch mehr als ein­hun­dert Jah­re spä­ter aus. Gefühlt wach­sen seit Beginn der 2000er Jah­re an jeder Ecke Heil­prak­ter* innen­pra­xen und Joga­stu­di­os wie Pil­ze aus dem mär­ki­schen Sand­bo­den, kann man in Bio­super- markt­ket­ten öko­lo­gisch kor­rekt ein­kau­fen oder in Land­kom­mu­nen gegen den dro­hen­den Burn­out antan­zen. Der vor allem die befällt, die heu­te sehr erfolg­reich im Main­stream mitschwimmen.

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Foto: twinlili_pixelio.de

Doch von "Frei­heit, Gleich­heit, Brü­der­lich­keit" weit und breit kei­ne Spur. Und beson­ders per­fi­de: Gera­de natur­heil­kund­li­che Ratgeber*innen emp­feh­len, Wut und ande­re "nega­ti­ve" Emo­tio­nen nicht etwa an der ent­spre­chen­den Adres­se raus­zu­las­sen, son­dern das eige­ne Heil(werden) vor allem im Los­las­sen und in der "Natur" zu suchen.

Und  selbst für das "rich­ti­ge" Atmen kann frau heu­te jede Men­ge Geld ausgeben.

Astrid Priebs-Trö­ger

(*) Wei­ter­füh­rend ist der Auf­satz von Joa­chim Rad­kau: www.zeit.de/zeit-geschichte

20. Juli 2015 von Textur-Buero
Kategorien: Alltagskultur, Ausstellung | Schreibe einen Kommentar

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