Leilas Abschied
Der Bruch hätte nicht größer sein können, als man am Montagabend bei den Potsdamer Tanztagen vom lauen Sommerabend in eine arabische Totenklage geriet.
Im T‑Werk leitete "Leilas Abschied" von Ali Chahrour die zweite Festivalwoche ein und die Inszenierung aus Beirut tat dies ungemein kraftvoll. Drei Männer und eine Frau kommen auf die Bühne und positionieren sich wie zum Familienfoto.
Eine ältere Frau und ihre drei Söhne, denkt man. Doch die Männer stimmen den Lobgesang auf ihren großen und einzigen Gott ein; die Frau sitzt da und schweigt, während sie dies tun.
Aber die im Lehnstuhl sitzende Leila wird sofort zur Hauptperson. Schon ihre bloße körperliche Präsenz zeigt, dass sie der "Geist des Hauses" und der Inszenierung ist. Und als die ältere füllige Frau zum ersten Mal ihre dunkle kehlige Stimme erklingen lässt, hört man augenblicklich den Schmerz dieser Welt.
Die Musik auf Trommeln (Tumbak, Bandir, Iranien Duff und Katem) sowie arabischen Saiteninstrumenten (Buzuks und Iranien Saz) tut ein Übriges.
Leila erzählt aus ihrer glücklichen Kindheit und dem Tag als sie ihren verkrüppelten Mann gegen den Willen ihrer Familie heiratet. Seitdem hat sie das Leid(en) "gepachtet". Sie wächst, als ihre Eltern und Geschwister kurz nacheinander sterben, ganz natürlich in die Rolle der Klagesängerin hinein.
Doch das größte Unglück erfährt sie – und mit ihr die Zuschauer*innen dieser Inszenierung – erst, als ihr eigener Sohn den Märtyrertod stirbt. In klaren Bildern zeigt "Leilas Abschied" wie groß die Liebe zwischen Mutter und Sohn und wie schwer es ist, einander gehen zu lassen.
Zur stärksten Szene des Abends gehört die, in der die Mutter den (toten) Sohn umarmt und stützt, und in ihrer abgrundtiefen Verzweiflung liebevoll Gebende und bedürftige Nehmende zugleich ist. Noch intensiver wird dies, als sie ihre Pein durch Schläge rauslässt und der Sohn bis zur Erschöpfung die schlagende Hand der Mutter sucht.
Bei dieser gefühlsmäßigen Intensität der Totenklage beginnt man als "ungläubiger" Europäer zu erahnen, welche kulturellen Verluste wir erlitten haben. Denn Klageweiber gehörten bis zum Mittelalter auch in Westeuropa dazu. Inzwischen gibt es wieder professionelle; Nachfrage steigend.
Aber man beginnt bei diesem grandiosen Trauerritual auch zu begreifen, um wie viel tiefer die Lebensintensität dieser "fremden" Kultur sein muss, wenn selbst noch im/nach dem Tod so innige Gefühle gelebt und ausgedrückt werden können.
Astrid Priebs-Tröger