Was mensch braucht
Ich bin überhaupt keine Freundin von Großveranstaltungen. Doch am Samstagabend bin ich extra zur diesjährigen "Stadt für eine Nacht" gegangen, um vor dem T‑Werk das portugiesische Straßentheater "SÓ" zu erleben.
Und was ich dort in nur fünfundzwanzig Minuten zu sehen bekam, hat mich sehr berührt. Der Schirrhof wimmelte von gutgelaunten Menschen, die Eis aßen oder Wein tranken, plauderten oder miteinander knutschten, als ein alter Mann auf hohen Stelzen das Areal betrat.
Mit wehenden Hosenbeinen und Mantelschößen, einem zerknautschten schwarzen Hut auf dem schlohweißen Haar. Sein Gesicht war von einer Halbmaske bedeckt, in die das gelebte Leben eingeschrieben war.
Unter seinem Arm trug er eine aufgerollte und zerschlissene Zeitung, die ihm sowohl als Lektüre als auch als Decke diente. Dieser Mann ging auf eine überdimensionierte Bank zu.
Er erklomm sie langsam und erst hier merkte man ihm seine Gebrechlichkeit respektive Einsamkeit an. Denn da saß er nun – allein. Viel zu klein für diese riesige Bank.
Er kramte in seinen Manteltaschen und förderte Brot, eine Kerze und sein halbes Leben zutage. Denn plötzlich wagte er einen wilden, schönen Tanz aus seinen Jugendjahren, fütterte vergnügt die Tauben und trat ins imaginäre Zwiegespräch mit anderen.
Doch diese kurzen Erinnerungsfetzen zeigten umso mehr, wie "leer" es jetzt um ihn herum war. Da half es auch nichts, dass da so viele Menschen waren. Denn die blieben abseits, setzten sich nicht zu ihm auf die Bank.
Er hingegen ergriff die Initiative, verteilte Brotstückchen – Was für ein Bild! – und lud Einzelne zum Sitzen neben sich ein. Nicht, weil er bedürftig war, sondern so viel zu geben hatte. Leider spüren nur ganz wenige (jüngere) Menschen, was Älterwerden wirklich heißt.
Dass es so viel Wärme und Freude für uns alle bedeuten könnte! Sérgio Fernandes, der Regisseur und Schauspieler von "Sómente" (deutsch: Einsamkeit) ist einer von ihnen. Wie gut, dass er nach dem Applaus die Maske lüftete und sein eigenes Gesicht zeigte.
Fotos und Text: Astrid Priebs-Tröger