Am Nullpunkt
Im Zuschauerraum war es stockdunkel, und nur das Licht einer Taschenlampe wies dem Publikum den Weg zu seinen Plätzen. Doch ein Stromausfall war es nicht, der dies Dunkel verursachte, sondern sie ist die mental-emotionale Einstimmung auf das außergewöhnliche Tanzsolo "Raw Light" der zwischen Berlin und Polen pendelnden Choreografin, Tänzerin und Psychologin Anna Nowicka.
Die ganz in schwarz gekleidet, in der hintersten Ecke der Bühne in der Dunkelheit auf dem Boden liegt und uns in der nächsten Dreiviertelstunde in einen sehr fluiden Zustand des Unbewussten und/oder (Alp-)Träumens entführt. In der Dunkelheit, in der alle Sinne geschärft sind, steigt mir sofort auch ein herb-aromatischer Geruch in die Nase: so könnte es im Wald oder auch in einer Sauna riechen.
Ans Draußen sein erinnerte auch der teils künstlich teils natürlich anmutende Sound, der manchmal wie ein Lagerfeuer knackte später metallisch vibrierte. Doch dann beginnen kleine Lichtflecken über die schwarzen Wände im T‑Werk zu tanzen – jetzt mutete es an wie Discozauber – ein Gemisch aus Spiegelkugel und Handyleuchten.
Anna Nowicka widmet sich schon seit sechs Jahren den physischen Zuständen des Träumens und fragt in ihren Projekten auch nach den Grenzen zwischen Fiktion und dem, was wir für "real" halten. In "Raw Light" verschwimmen diese Grenzen immer wieder.
Aus ihrer künstlichen Nacht entwickelt sich später fahler Dämmer. Dann sitzt Nowicka, bei der zu diesem Zeitpunkt nur Gesicht und Hände sichtbar sind, im Fersensitz ganz vorn auf der Bühne. Und ihre Arme – diese sind die aktivsten Teile ihres Körpers während des gesamten Solos – vollführen rasend schnelle zuckende, flügelnde, schlagende und schlängelnde Bewegungen – wie losgelöst von dem ganzen unbeweglichen Körperrest.
Um dann als Ganzes wieder bewegungslos mit dem Gesicht auf dem Boden zu landen. Auf dem Nullpunkt sozusagen, nicht ahnend, dass die nächste (Traum-)Welle sie bäuchlings erbeben und erdgebunden und himmelstrebend zugleich über den Boden wandern lässt. Wie sie da, wie ziellos ferngesteuert, laut hustend und später mit herausgestreckter Zunge den zwielichtigen Raum ausfüllt, erinnert "Raw Light" nicht nur energetisch an die Bildwelten von Hieronymus Bosch.
Und das ungewöhnliche und ausdrucksstarke Solo triggert augenscheinlich auch die Traumwelten anderer an. Denn wie sonst ist zu erklären, dass Nowicka, nachdem sie im letzten Drittel wieder in bewegungslose, diesmal helle Stille abtaucht, sich dann auf die Zuschauertribüne setzt, kurz darauf von einer fremden Frau neben ihr – mit Tränen in den Augen – in den Arm genommen wird.
Alle anderen blieben gefühlt ewig bewegungslos sitzen und die Tänzerin musste am Ende ihrer (Alp-)Traumsequenz mit einer deutlichen Geste anzeigen, dass jetzt geklatscht werden darf. Insgesamt fühlte sich das an wie das Auftauchen aus einer anderen Realität, die mich fast wie eine gute Hypnose gänzlich aufgesogen hatte.
Astrid Priebs-Tröger