Fragmentierte Bilderfluten
Diese Inszenierung ist hochaktuell. Nimmt sie doch die Beeinflussung des Einzelnen durch digitale Medien – also ein überaus komplexes Thema – ganz ohne Worte in den Blick.
Auffällig ist bereits der Bühnenraum der in der fabrik zur Premiere gekommenen Kombinat-Inszenierung "Lost in formation". Ein etwa drei Meter hohes weißes Halbrund umrandet ihn bis auf den vorderen Rand gänzlich. Dort wird er rechts und links von zwei raumhohen, schmalen Projektionsflächen begrenzt. Die im Verlauf der analog-digitalen Tanz-Film-Performance Stück für Stück in der Mitte zu einer verschmelzen und danach auch wieder millimeterweise auseinander rücken.
http://www.kombinat-tanz-film.de/kombinat/lost-info.htm
Doch vorerst gehört den beiden Tänzern in den dunklen Trainingsanzügen – Risa Kojima und David Pallant – die ebenfalls gänzlich weiße Bühne. Mit raumgreifenden Bewegungen und Rückwärtsrollen durchmessen sie diesen „leeren“ Raum. Immer wieder mit den Augen am oberen Rand nach Orientierung suchend und ihn mit großen Schritten und Armbewegungen durchquerend, bleiben sie seltsam verloren, ohne näher definierten "Sinn" darin zurück.
Fragmentierte Bilderflut absorbiert Aufmerksamkeit
Dies verändert sich, als sich zu den beiden Tanzenden bewegte Bilder auf den vorderen Projektionsflächen gesellen. Anfangs sind die Tänzer selbst "bruchstückhaft" darauf zu sehen, doch nach und nach fluten digitale Bilder von menschlichen Formationen wie weltweiten, zum Teil exotisch anmutenden Militärparaden, von Marathon- und Tanzveranstaltungen, Parlamentssitzungen und Demonstrationen oder Formationen von Fallschirmspringern die beweglichen Projektionsflächen und damit die gesamte Bühne.
Dazwischen gibt es auch immer wieder Gruppenchoreografien, die von Kombinat extra für die Inszenierung gedreht wurden. Beeindruckend ist das. Aber: diese fragmentierte Bilderflut absorbiert auch fast die gesamte (eigene) Aufmerksamkeit.
Und: das "analoge" Tanztheater verschwindet beinahe hinter diesem medialem Schleier. Die beiden Tänzer werden von den Bildern – auch durch das Zusammenrücken der Projektionsflächen – teilweise verdeckt und ihre Bewegungen von den massenhaften Bewegungen auf den Filmsequenzen – wie z. B. immer wieder Stechschritten – überlagert. Doch dazwischen versuchen Kojima und Pallant in Echtzeit ihre, eine eigene Körpersprache zu behaupten.
Tanztheater hinter medialem Schleier
Wenn beispielsweise zwei (Film-)Gruppen mit an Selfie-Stäben befestigten Smartphones bei ihren Schnappschüssen beinahe chorisch agieren, werden bei den beiden Tänzern diese Geräte schon mal wie Hockeyschläger behandelt. Und es passiert öfter, dass sie standardisierte (Gruppen-)Bewegungen unterlaufen. Nicht nur, weil sie durch ihre echte körperliche Anwesenheit zeigen, dass Gruppen immer aus Einzelnen bestehen. Sondern auch, weil sie sich in ihren Bewegungen immer wieder von den agierenden Massen absetzen. Mit Posen, die an Sumo-Ringer erinnern oder wenn Risa Kojima ihren Kopf in den Bauch ihres Partners rammt und ihn damit langsam wegschiebt.
Doch es fällt einem als Zuschauendem nicht leicht, diese kleinen "analogen" Details zu erkennen. Der Titel "Lost in formation" der Inszenierung der Choreografin Paula E. Paul und des Medienkünstlers Sirko Knüpfer, die jetzt seit zehn Jahren als "Kombinat" zusammenwirken, spielt mit verschiedenen Bedeutungsebenen: dem Erlangen von beziehungsweise der Beeinflussung durch Informationen. Und auch "lost" ist zweideutig und kann sowohl Hingabe oder als auch Untergehen bedeuten.
Eigene selektive Wahrnehmung hinterfragen
In "Lost in formation" stehen moderne Seh- und auch Erzählgewohnheiten auf dem Prüfstand. Es ist, so auch in so einem Bericht, eine "logische" Erzählung kaum mehr möglich. Bilderfolgen überlagern vieles, fehlende Sinnzusammenhänge verselbständigen sich – nicht nur dies führt die Performance in Echtzeit vor. Und: Das Formalisierte bleibt eher haften, die kleinen Details überfordern die Konzentration.
Insofern ist "Lost in formation" ein starkes Plädoyer dafür, immer wieder (neue) Prioritäten zu setzen. Und die eigene selektive Wahrnehmung zu hinterfragen. Sich dabei auf ein konkretes "Ich" und "Du" zu besinnen und mit diesem direkt zu kommunizieren beziehungsweise zu interagieren.
Astrid Priebs-Tröger