Die Kraft der Sprache
Was für ein Finale! Mit dem interaktiven Hörstück "Rausch und Zorn" des deutschen Künstlerkollektivs LIGNA begab man sich am Unidram-Abschlussabend selbst zu den Wurzeln des (italienischen) Faschismus.
Die (Zuschauer-)Gruppe, die daran teilnahm, wurde, lediglich durch eine suggestive Frauenstimme im eigenen Ohr, auf eine nächtliche Wanderung durch die Schiffbauergasse geschickt, um im Geiste als Gruppe aus "Brüdern" im legendären Freistaat Fiume des italienischen Schriftstellers Gabriele D’Annunzio, der als einer der Ideengeber von Mussolini gilt, anzukommen.
D’Annunzios Herrschaft in Fiume 1920/24 nahm wesentliche Elemente des Faschismus vorweg, wie beispielsweise die Fixierung auf einen Führer oder die Massenmobilisierung. Und genau dies konnte man in "Rausch und Zorn" auch spielerisch an Leib und Seele – durch eigenes Jubeln und Kämpfen – erfahren.
Mit Losungen wie "Voran!", "Die alte Welt wird untergehen" oder "Wer nicht für uns ist, ist gegen uns" schaffte es die ungemein dichte, sowohl theatrale als auch philosophische Installation, einen Resonanzraum bis in die deutsche Gegenwart zu eröffnen. Und die konstituierende Bedeutung von "Sprache" und "Emotionen" beim Entstehen einer "Bewegung" sicht- und fühlbar zu machen.
Wie gegenwärtig in der AFD, die mit ihrem rechtsextremen "Führer" Höcke und den Kyffhäusertreffen (Barbarossa!) ebenfalls die unzufriedenen (ostdeutschen) "Massen" zu mobilisieren versucht(e). Indem sie die sogenannte "Thymos-Spannung", was nichts anderes als Zorn der Bürger*innen bedeutet, gezielt zu schüren begann.
Dieser Begriff des Thymos, der auf Platon zurückgeht – und von dem Sloterdijk-Schüler und AFD-Mitglied Marc Jongen in Umlauf gebracht wurde – wird von LIGNA wie viele andere auch in den ursprünglichen Zusammenhang gestellt, und nach seiner Funktion für die Gegenwart befragt. Wie beispielsweise auch die der Rolle und Funktion des Theaters bei der Entstehung der deutschen (Kultur-)Nation im 19. Jahrhundert.
Dabei fallen einem als Zuhörer*in so manche Schuppen von den Ohren, wie auch bei der Vorführung des Reichstagsbrandprozesses von 1933 gegen Georgi Dimitroff und Marinus van der Lubbe, bei dem es nicht um Aufdeckung des Geschehens, sondern um die Herstellung von (falschen) Fakten ging. Es läuft einem immer noch kalt den Rücken herunter, wenn man dem bellenden Göring genau dabei zuhörte und weiß, dass mit diesem Prozess die systematische Zerstörung des demokratischen Rechtsstaates begann.
In "Rausch und Zorn" spürt man immer wieder, wie wichtig es ist, historische Zusammenhänge zu kennen, um sich nicht von (immer wieder) neu aufwallenden pathetisch-patriotischen Emotionen überrollen zu lassen. Doch dies ist anstrengend in der krisenhaften Gegenwart, in der viele Menschen mit der materiellen Sicherung ihres eigenen Lebens überproportional gefordert und durch weit verbreiteten Konsumismus inklusive ständiger medialer Zerstreuung vom eigenständigen Denken und Fühlen entfernt/entfremdet sind.
Und: Weil in der überaus komplexen Gegenwart progressive Gegenentwürfe zum von Krisen geschüttelten kapitalistisch-neoliberalen System immer noch Mangelware sind. In "Rausch und Zorn" verlässt das (mitwirkende) Publikum zum Schluss auch den (geschlossenen) theatralen und begibt sich wieder stehend in den öffentlichen Raum. Und wurde dort mit der (einfachen) wie utopischen Frage "Was wäre die Welt ohne 'Oben' und 'Unten'?" in die Dunkelheit entlassen.
Diese "Studien zum autoritären Charakter", so der Untertitel in Anspielung auf das gleichnamige Werk von Theodor Adorno von 1949, gehörten mit zum Stärksten, was das diesjährige Unidram-Festival in Potsdam versammelt hatte.
An den fünf intensiven Festivaltagen wurden zudem überaus unterschiedliche, ja geradezu konträre künstlerische Handschriften gezeigt. Angefangen von dem stark in Bezügen zur Bildenden Kunst agierenden und nach dem Sinn fragenden Eröffnungsstück von Robbert&Frank, über das faszinierend-irritierende Tanzsolo "Black Regent" von Iona Kewney bis hin zum schwarzhumorigen inklusiven (Puppen-) Theaterprojekt "Meet Fred".
Und es gab, wie schon so oft, wieder wunderbare Entdeckungen zu machen: die humorvoll-melancholische Musikperformance "LEAK" von BOT und das grandiose finnische Körpertheater "Invisible Lands", das einem die weltweiten Fluchtbewegungen ganz nah auf den Leib und in die eigene Seele rücken ließ. Oder die sehr eindringliche brasilianische Inszenierung "Gritos".
Danke, dass es solche herausragenden und wichtigen Stücke immer wieder bei Unidram zu sehen gibt und dass auch in den (kurzen) Pausen zwischen den Vorstellungen ein offener Raum für intensive Gespräche im Publikum entstand. Die stabilen Besucher*innenzahlen – 2700 sahen die 13 Inszenierungen aus zehn Ländern – bejahten auch bei diesem 26. Jahrgang die couragierte Zusammenstellung der engagierten Festivalmacher*innen.
Astrid Priebs-Tröger