Kurz vor dem Fall(en)
Surreal begann und albtraumhaft endete der erste Abend des jungen Figurentheaterfestivals RADAR, das bis Samstag im T‑Werk stattfindet. Denn verschiedene Chimären – Mischwesen zwischen Tier und Mensch – bevölkerten die "Just before Falling"- Aufführung des Kölner El Cuco Projekts.
Und wer öfter sehr bildhaft träumt, weiß, wie kompliziert es ist, anderen davon zu erzählen. So ähnlich ergeht es einem mit dieser in ihren Abläufen rational kaum fassbaren Performance.
"Just before Falling" beginnt im Zwielicht. Eine Echse mit menschlichen Gliedmaßen schiebt sich majestätisch aus einem imaginären (Ur-)Wald. Als sie als tierisches Mischwesen deutlich zu erkennen ist, bricht die Szene ab. Dunkel.
Kurz darauf sieht man ein erleuchtetes Zimmer, mit einer Kommode und Bilder an den Wänden. Auf der Kommode steht eine Vase, daneben eine Schale. Aus dem Nichts taucht wiederum eine Echse auf.
Diese scheint mehr Mensch als Tier, bewegt sich aufrecht auf zwei Beinen und macht sich in dem Zimmer zu schaffen: eine Blume landet in der blauen Vase, eine Münze fällt klirrend in die daneben stehende Schale und ein roter Regenschirm wird aufgespannt und zugeklappt und in einer alten Milchkanne verstaut.
Dieser Vorgang wiederholt sich mehr als ein halbes Dutzend Mal; immer wieder mit Blacks dazwischen und jedes Mal wandert die Vase – später vier weitere – ein Stück weiter an die Kante der Kommode und droht herunterzufallen.
Dazu kommen Worte aus dem Off, die den Vorgang des Fallens physikalisch zu erklären versuchen. Aber auch das ist keine wirkliche "Erklärung" für das, was gerade geschieht.
Plötzlich wechselt die Personage; aus den beiden Echsen werden Vogelmenschen, schließlich kommen auch Fledermausmenschen in dieses Zimmer, dessen zwei Wände abrupt abgeschnitten und dessen Vasen im freien Fallen jedoch nicht am Aufprallen und/oder Zerspringen sind.
Und eine Stimme aus dem Off erzählt u.a., dass jemand, der mit dem Schlüssel eine Tür aufschließen will, weder das Schloss noch eine Tür, noch eine Wand, noch ein Haus findet und so weiter. Der kafkaeske Albdruck steigt in der eigenen Fantasie weiter an, ein dunkles Grollen in der Inszenierung untermalt ihn und die Fledermausmenschentiere halten zitternd einander fest.
Auf dem Höhepunkt dieses immer stärker irrlichternden Geschehens zeigt möglicherweise ein Bild an der Wand, wo die Reise eigentlich hingeht. Auf ihm ist ein Haus mit drei sturmgebeutelten Bäumen zu sehen; einer der Fledermausmenschen reißt jetzt das Haus heraus und das Bild dreht sich an seinem Nagel wie verrückt um diese Achse.
Spätestens hier ist das grenzüberschreitende Chaos perfekt und die bibbernden Fledermaus-Menschentiere lassen einander nicht mehr los. Mit dem Computer überformte Stabat-Mater-Musik nach Motiven von Vivaldi untermalt diese Weltuntergangsszenerie, in der es keine Regierungen, keine Menschen, keine Straßen, keine Honeymoons, keine Gesetze mehr, sondern anscheinend nur noch dieses eine bange Fledermauspaar gibt.
"Vor dem Fallen" ist eine sogartige genreüberschreitende Inszenierung, die man nicht so schnell vergessen wird. Nicht nur wegen ihrer besonderen Ästhetik der faszinierenden Mensch-Tier-Mischwesen, die in der Bildenden Kunst bei Hieronymus Bosch oder auch beim Surrealisten Max Ernst beeindruckende Höhepunkte erreichten und auf das Unbewusste des Menschen zielen.
Sondern auch, weil in chaotischen Krisenzeiten irrationale Erklärungsmuster und –gefühle wie von selbst aufploppen und die Angst vor dem Chaos, vor dem Nichts zu fassen/zu bebildern versuchen.
Und in Zeiten, in denen Religion oder Spiritualität ihre Bedeutung für viele Menschen verloren haben, feiern eben auch Science-Fiction, Esoterik, Pseudowissenschaften wie Ufologie und auch Erzählungen, in denen Reptiloide endgültig die Weltherrschaft ergreifen, als nicht rationale Erklärungsmuster fröhliche Urständ.
Apropos: EL Cuco bedeutet im Spanischen Monster und wird, ähnlich wie früher in Teilen des deutschsprachigen Raums der Butzemann, dort immer noch als Kinderschreck benutzt.
Astrid Priebs-Tröger