Lieben statt Leiden
Was für ein Finale! Das französische DÍRTZtheatre setzte mit seinen drei Kurzstücken, die um Fragen der Identität, des Alterns und von Zugehörigkeit kreisten, dem diesjährigen RADAR-Figurentheaterfestival buchstäblich die Krone auf.
In 75 Minuten erzählten Jolanda Löllmann und Charlie Denat, die beide Tänzer und Puppenbauer sind, beinahe wortlos ein ganzes Menschenleben. Denn es fühlte sich an, als tanzte bei ihnen die Zukunft mit der Vergangenheit auf der Schulter (und umgekehrt) einen fulminanten Tango oder einen melancholischen Fado in der gemeinsamen kurzen Gegenwart.
In "ALIAS" schält sich aus dem Halbdunkel erst ganz allmählich eine Person heraus. Anfangs sah man nur menschliche Gliedmaßen, die miteinander verknäult waren, etwas weißen Stoff und einen Puppenkopf, von dem man nicht wusste, welchen Geschlechts er ist.
Auch das Alter war unbestimmbar. Nach einem erneuten Black stand plötzlich der Körper eines Mannes mit dem (Puppen-)Kopf eines Alten – mit markantem Kinn, riesigen Ohren und zerfurchter Stirn – auf der Bühne. Doch die energischen Bewegungen seines ungemein elastischen Körpers wollten nicht so recht mit dem greisen Haupt zusammengehen. Wer ist wer und (wie) gehören sie zusammen?
Dies wird erst erkennbar, als sich Charlie Denat Hemd und Jacke auszieht, sein muskulöser Körper zum Vorschein kommt und er schließlich den Greisenkopf auf einen zweiten, aus der Jacke geformten Leib, setzt. Jetzt sind sie zwei, die in einen immer poetischeren Dialog miteinander treten.
Es fühlt sich an wie Großvater und Enkel respektive Vergangenheit und Zukunft, die eng, aber nicht symbiotisch zusammenhängen. Immer mehr kommt jeder in seine eigene Kraft/Energie und damit wird erst ein wirklicher, sprich auch leichter und komischer Austausch möglich.
Im zweiten Stück "Nonna(s) don´t cry" ist von vornherein klar, dass hier zwei eigenständige Frauen auftreten. Ganz herzberührend und beseelt ist es, als die Alte den Fuß der Jungen – Jolanda Löllmann, die als Puppenspielerin hinter ihr sitzt – als Telefonhörer benutzt, um mit ihr zu reden.
Und die Junge am Ende des Gesprächs sagt "Ich bin genau hinter dir …" und beide ein kurzes Stück Gegenwart gemeinsam gehen beziehungsweise tanzen. Bis zu einem melancholischen Fado die Seele der Alten entschwebt und ihr Körper am Boden zurückbleibt.
Berührender hat man die besondere Energie zwischen Enkelinnen und ihren Großmüttern auf der Bühne noch nicht gespürt. Eine Steigerung erfährt dies noch, als sich die Junge die Alte auf die Schultern lädt, und ähnlich wie im ersten Stück, mit der Vergangenheit und auch dem eigenen Vergehen im Nacken ihre Gegenwart gestaltet. Allen (modernen) Generationenkonflikten zum Trotz, ein wunderbares Verbundensein zelebriert, sich für Lieben statt Leiden entscheidet.
Bilder sagen mehr als tausend Worte. Diese Binsenweisheit trifft auch auf das dritte Kurzstück "The third step" zu, das diesen aufeinander aufbauenden Zyklus krönt. Jetzt tanzen Jolanda Löllmann und Charlie Denat, die ihr DÍRTZtheatre erst 2018 gründeten und mit ihren "Short Stories" im T‑Werk Deutschlandpremiere feierten, mit einer kindlichen Puppe.
Anfangs ist SIE mit dieser allein, bis sie das erste Mal auf IHN treffen und sich daraus ungemein spielerisch eine Dreierbeziehung entwickelt. Diese verschiebt sich allmählich in eine innige Zweierbeziehung zwischen IHR und IHM und ES muss auf diese Dynamik reagieren. Was ES mal amüsiert, mal genervt auch tut.
Es ist großartig, wie bei diesen beiden Tänzern und ihren mit ihnen kongenial verschmolzenen Puppen schon wenige kleine Bewegungen große Dynamiken entfalten. Und eben ganze Geschichten, oder auch Dramen erzählen können. Denn die innige Zweierbeziehung geht wieder flöten und das einstmals wunderbar austarierte, elastische Beziehungsgeflecht zerreißt.
Aber auch hier zeigen Löllmann und Denat mit wenigen Bewegungen und Gesten so viel über Verlust, Einsamkeit und Schmerz, dass man sich wünscht, dass sich trennungswillige Paare, zumindest solche mit Kindern, dieses Stück ansehen. Und dann noch einmal selbst tanzend erforschen, ob sie sich das selbst und ihren Kindern wirklich zumuten wollen.
Astrid Priebs-Tröger