Weltende?!
Merkurius ist ein vieldeutiger Begriff, der sowohl das chemische Element Quecksilber, als auch den Planeten Merkur und auch den Gott Hermes (römisch: Merkur) bezeichnet.
Die schwedische Choreografin und Filmemacherin Gunilla Heilborn, die bereits mehrmals bei den Potsdamer Tanztagen zu Gast war, ist jetzt mit der Deutschlandpremiere von "Merkurius" angereist.
Und die Bühne im T‑Werk, die mit allerlei Krimskrams übersät ist, glänzt wie der Cowboyhut mit den sachte baumelnden Conchos, den die finnische Performerin Kristiina Viiala trägt, silbrig.
Deren Temperament ist das blanke Gegenteil von quecksilbrig und nur ihre vielfältigen Gedankenfetzen, die um schwarze Löcher, die Unmöglichkeit von Kommunikation, Orakel in vergangenen Jahrhunderten oder den (aufziehenden) Weltuntergang kreisen, zerplatzen immer wieder wie das gleichnamige Metall in kleinere und immer mehr Tropfen.
Sie sind wie diese (giftigen) Quecksilber-Tropfen schwer zu fassen und (wieder) in ein zusammenhängendes Ganzes zu bringen. Vielleicht hilft da nur die "Engelnummer 432", die ganz am Ende, auf der von der Performerin abgerollten Silberstreifenrolle auf der Bühne erscheint.
"432" ist in der Numerologie die Botschaft, dass man seinen Träumen, Tagträumen, Visionen, wiederkehrenden Gedanken und Gefühlen besondere Aufmerksamkeit schenken soll. Sprich: Nehmen Sie sich Zeit zum Meditieren, verbinden Sie sich mit den Engeln und der spirituellen Welt und kommunizieren Sie mit ihnen, um Gleichgewicht und Klarheit zu finden!
Die somnambule Performerin erzählt auch – uns oder der Dialogstimme im Hintergrund? – dass sie ihren Tagesablauf nach Voraussagen von amerikanischen Horoskopen der 1950er Jahre gestaltet und momentan ganz gut damit fährt.
In gesellschaftlichen Krisenzeiten wie diesen, "Merkurius" entstand 2022, ist es auch nicht verwunderlich, dass unterschiedlichste esoterische Praktiken Hochkonjunktur haben.
Da am "Ende der Geschichte", das nach Francis Fukuyama nach dem Fall des Eisernen Vorhangs einsetzte, als der kapitalistischen Gesellschaftsordnung die Reibungspunkte abhandenkamen und sich bisher keine neuen gesellschaftlichen Utopien entwickelten, und weder die allseits gehypte Wissenschaft noch traditionelle Religionen Antworten finden, scheinen alle nur noch auf "Erlösung" zu hoffen.
Gunilla Heilborn fängt diese morbide Endzeitstimmung mit dem ihr eigenen trockenen Humor und dem melancholischen Temperament ihrer kongenialen finnischen Performerin, die auch gut in einen Kaurismäki-Film passen würde, ironisch ein.
Da weltweit statt der kommunikativen und Handelsenergien von Merkur die zerstörerischen des Kriegsgottes Mars wüten, wäre es vielleicht gut, sich wieder an die homöopathischen Wirkungen von Mercurius solubilis (Quecksilber) zu erinnern. Fette Entzündungen mit übel riechenden Ausscheidungen lassen sich damit recht gut in den Griff kriegen.
Astrid Priebs-Tröger
Die Arbeit an diesem Artikel wurde "gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien im Programm NEUSTART KULTUR, Hilfsprogramm DIS-TANZEN des Dachverband Tanz Deutschland."