Doppelter Ausnahmezustand

Der zwei­te Tag der Pots­da­mer Tanz­ta­ge war ein unge­wöhn­li­cher, sehr inten­si­ver Dop­pel­abend. Mit  "The pret­ty things" und "Losing it" wur­den Stü­cke von zwei Frau­en, die eine aus Kana­da, die ande­re aus Paläs­ti­na prä­sen­tiert. Der Wes­ten traf auf den Nahen Osten, Krieg auf Frie­den, Hoch­span­nung auf Entspannung.

Samaa Wakim ist eine paläs­ti­nen­si­sche Cho­reo­gra­fin und Per­for­me­rin, die im Kri­sen­ge­biet auf­ge­wach­sen ist. Kon­sti­tu­ie­rend für ihr Stück ist eine grün leuch­ten­de Slack­li­ne, die dia­go­nal über die dunk­le T‑Werk Büh­ne ver­läuft. Die jun­ge Per­for­me­rin taucht aus der Dun­kel­heit auf. Wird sie die Slack­li­ne bestei­gen und dar­auf balan­cie­ren wie vie­le ande­re Jugend­li­che auf der Welt? Doch ist das über­haupt mög­lich in die­ser unbe­re­chen­ba­ren Situa­ti­on, die stän­dig zwi­schen Nor­ma­li­tät und Aus­nah­me­zu­stand hin- und herpendelt?

Losing it, Foto: @Mohab_Mohamed

Eine inten­si­ve, oft kako­pho­ni­sche Ton­spur von Samar Had­dad King mit ohren­be­täu­ben­den Groß­stadt­ge­räu­schen aus Stra­ßen­ver­kehr, ara­bi­scher Musik und Gebe­ten, aber auch Hub­schrau­ber­lärm und Gewehr­sal­ven erzeugt bei der jun­gen Frau und in uns ein stän­di­ges Wech­sel­bad der Gefüh­le: Ist dem Vogel­zwit­schern oder dem Feu­er­werk am Him­mel über­haupt zu trau­en, wenn unmit­tel­bar davor/danach Sire­nen und Schüs­se ertönen?

Losing it, Foto: @Magdalena_Bichler

Die gra­zi­le Per­for­me­rin bewegt sich immer in der Nähe des fluo­res­zie­ren­den Ban­des, das den dunk­len Raum in zwei Tei­le teilt. Mal hängt sie dran, oder liegt bäuch­lings drü­ber, dann wie­der ver­sucht sie den Auf­stieg und die Balan­ce. Doch kann die­se gelin­gen, wenn im eige­nen Kör­per die Ener­gien eines krie­ge­ri­schen Aus­nah­me­zu­stan­des abge­spei­chert sind?

The pret­ty things, Foto: ©Mathieu_Doyon

Die Kör­per der fünf älte­ren und jün­ge­ren Performer:innen in Cathe­ri­ne Gau­dets Cho­reo­gra­fie "The pret­ty things" befin­den sich eben­falls im Aus­nah­me­zu­stand: sie bewe­gen sich eine Stun­de lang ohne Pau­se. Ihre Arbeit erin­ner­te an Jan Maar­tens Stück "The dog days are over", das 2015 bei den Tanz­ta­gen zu erle­ben war. 

Anfangs noch mit spar­sa­men, nicht völ­lig syn­chro­nen Bewe­gun­gen, doch immer im glei­chen Rhyth­mus der Musik von Antoine Bert­hiau­me, die Anlei­hen bei der Mini­mal Music von Phil­ip Glass nimmt. Mit den Anklän­gen eines Metro­noms. Doch irgend­wann  ver­las­sen sie ihren fes­ten Stand­punkt und for­mie­ren sich zu einer sehr dyna­mi­schen Linie, von der aus keine:r mehr aus der Rei­he tanzt. Davor gab es hin und wie­der Aus­bruchs­ver­su­che aus der Kon­for­mi­tät, die jedoch vom Sys­tem tole­riert wur­den und sich schnell wie­der einpendelten.

The pret­ty things, Foto: ©Mathieu_Doyon

Alle bre­chen in Schweiß und ab und an in Anfeue­rungs­ru­fe aus, ver­fal­len in kin­di­sches Gebrab­bel und Gekrei­sche, nur, um immer wei­ter zu machen. Das Wort Leis­tungs­trä­ger kam mir in den Sinn, je län­ger ich der inten­si­ven, nahe­zu sog­haf­ten Auf­füh­rung folg­te. Doch hin­ter den robo­ter­haf­ten Bewe­gun­gen ver­schwan­den die kon­kre­ten Men­schen, und je mehr deren indi­vi­du­el­le Erschöp­fung zunahm, umso eupho­ri­scher wur­de per­formt –  federn­der Stech­schritt inklusive.

Gegen Ende hin gibt es einen fast unmerk­li­chen Moment des Inne­hal­tens – und die jewei­li­ge Indi­vi­dua­li­tät schien in der sich abzeich­nen­den Erschöp­fung kurz auf – doch die­se Ent­span­nung konn­te sys­te­misch nicht zuge­las­sen wer­den, denn dadurch wäre die­se hoch­ge­power­te For­ma­ti­on, die auch an Mecha­nis­men der moder­nen Arbeits­welt erin­ner­te, zerbrochen.

Und was sind sie nun "die schö­nen Din­ge"? Wer bei­de Per­for­man­ces an einem Abend gese­hen hat, wird dies leicht beant­wor­ten kön­nen. In eine, wie auch immer gear­te­te Balan­ce fin­den, sich (selbst) nicht in den chao­ti­schen Zeiten/ Umstän­den – hier wie da – zu ver­lie­ren, dürf­ten auf jeden Fall dazu­ge­hö­ren. Star­ke State­ments aus sehr unter­schied­li­chen Wel­ten, die jedoch bei­de den Kern der mensch­li­chen Exis­tenz berühren.

Astrid Priebs-Trö­ger

Die Arbeit an die­sem Arti­kel wur­de "geför­dert durch die Beauf­trag­te der Bun­des­re­gie­rung für Kul­tur und Medi­en im Pro­gramm NEUSTART KULTUR, Hilfs­pro­gramm DIS-TANZEN des Dach­ver­band Tanz Deutsch­land."

01. Juni 2023 von Textur-Buero
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