Raum für Unsagbares
Ein Kind zu verlieren ist das Schlimmste, was Eltern passieren kann. In "We still have words" reflektieren der muslimische Ladenbesitzer Azdynde Amimour und der Arzt mit christlichen Wurzeln Georges Salines, wie es sich anfühlt, Väter von Bataclan-Attentätern beziehungsweise –Opfern zu sein.
Am 13. November 2015 verübten drei Terroristen des sogenannten "Islamischen Staates" einen Anschlag auf den Pariser Konzertsaal und töteten dabei 90 Menschen.
Das Theaterschiff Potsdam hat in seiner 2022 gestarteten Reihe "Unzähmbar – Theater & Konzert für den Frieden" jetzt dieses Buch der beiden verwaisten Väter als Grundlage genommen und daraus ein überaus berührendes Format aus Weltmusikkonzert und Theatercollage entwickelt, das Anfang März in der Französischen Kirche zur Premiere kam.
Das Konzert, das eine quasi kommentierende Funktion hat, bestreiten die exzellenten Laccasax-Musiker Andrej Lakisov, Timofey Sattarov und Bernd Gesell, die mit "Reminiscence" von Astor Piazzolla den erschütternden und zugleich positiven Abend eröffnen. Denn die Musik sagt – wie auch Bilder – mehr als tausend Worte.
Schon mit dem innerlich zerrissenen Eingangstango wird emotional auf das eingestimmt, was die beiden Väter in den kommenden zwei Stunden berichten werden und was immer wieder ein Wechselbad der Gefühle auslöst. Die Musiker sind die ganze Zeit auf der Bühne, die Schauspieler:innen kommen mehrmals aus unterschiedlichen Richtungen des runden Kirchenraums dazu.
Ein wirklicher Glücksgriff der Bamberger Regisseurin Nina Lorenz ist es, den Vater des Attentäters Samy Amimour mit einer Frau, der Schauspielerin Larisa T. Papizh zu besetzen, die hier in den schwierigen und ungemein mutigen Dialog mit dem Vater des Opfers Lola Salines (Valentin Bartzsch) geht.
Dieses männlich-weibliche Zwiegespräch gibt der vielschichtigen Textcollage eine noch universellere Dimension. Zu beiden Elternteilen gesellte sich noch Johanna Knefelkamp, die immer wieder – wie ein Schatten – die beiden verlorenen Kinder verkörpert und mal wie eine Last an einem der Väter hängt oder mit dem anderen ringkampfmäßig tanzt.
Wenn beide nicht gerade ihren intensiven Dialog über Täter und Opfer, Schuld und Versagen, Hass und Trauer schnörkellos, nahezu dokumentarisch führen. Und trotz ihrer vielen Worte nur einen Teil ihrer/unserer Emotionen ausdrücken können. Sind sie verstummt, übernehmen die wunderbar sensiblen und zugleich dynamischen Laccasax-Musiker und bringen die unterdrückten Gefühle zum Ausdruck beziehungsweise ins Fließen.
Zum Glück ist dann nach etwa 90 Minuten neben Schmerz, Wut und Trauer auch wieder spielerische Lebensfreude möglich, wenn Andrej Lakisov Barry Cockrofts "Kuku" interpretiert. Ansonsten stammen die meisten anderen Kompositionen des engagierten Programms von Timofey Sattarov.
Und am Ende erscheint, wie auch schon in den vorherigen Folgen der "Unbezähmbar"-Reihe, diesmal ganz in schwarz, der mystische Sänger Gennady Tkachenko Papizh und öffnet mit seinem unvergleichlich magischen Gesang gemeinsam mit dem Bassisten Bernd Gesell einen fast heilig zu nennenden Seelenraum.
Astrid Priebs-Tröger