Grandioses Wir-Gefühl
Dutzende Rosen flogen nach der Inszenierung "Common Emotions" von Yasmeen Godder aus Tel-Aviv ins Publikum. Nicht nur, um Danke zu sagen für die rege Beteiligung an dieser kollaborativen Produktion der israelischen Choreografin.
Nein, Festivalleiter Sven Till bedankte sich am Samstagabend ausdrücklich für die Intensität, mit der das Publikum in diesem 26. Jahr der Tanztage an der zwölftägigen Gemeinschaftsbildung mitgewirkt hatte. Das überwältigende Wir-Gefühl entstand zwischen zwölf Gruppen aus acht verschiedenen Ländern und den mehr als 7.500 Besucher*innen; 2500 mehr als im vergangenen Jubiläumsjahr.
Es begann sofort am 25. Mai mit den stehenden Ovationen des Publikums im Hans Otto Theater nach dem furiosen Auftakt mit der französischen Circus-Compagnie XY, die das Motto der gesamten Tanztage quasi vorgab: "Allein ist man schneller, doch gemeinsam kommt man weiter."
Diese 22 Artist*innen führten praktisch vor, was es heißt, auf eine Gruppe bauen zu können und reflektierten dies zudem humorvoll für jedwede Art von Gemeinschaft. XY gaben außerdem den Startschuss für die Auftritte weiterer Gruppen des Nouveau Cirque – wie Compagnie EA EO und DEFRACTO – die einen thematischen Schwerpunkt des Festivals bildeten. Wunderbar, wie modernes Tanztheater mit den Mitteln des Circus kooperieren und von ihnen profitieren kann und wie es diese Kunstform schafft, nah am Volk zu sein.
Ein zweiter Strang des Festivals waren Produktionen aus dem Nahen Osten: Künstler*innen aus Israel und dem Libanon waren erstmals zu Gast. So bieten die Tanztage einerseits eine kulturelle Horizonterweiterung für hiesiges Publikum. Doch andererseits ist die Übersetzungsfunktion von Kunst gar nicht so einfach: "Leilas Abschied" ermöglichte deutschen Zuschauern eine "Einfühlung" in die Intensität arabischer Trauerkultur.
Libanesische Besucher hingegen reagierten, wie Sven Till erzählt, empfindlich, weil schiitische Rituale die Grundlage dieser Inszenierung bildeten. Kulturelle Prägungen, wegen dieser jene Zuschauer ihre syrische Heimat verlassen haben.
Zum ersten Mal war auf dem Festival auch eine belgische Gruppe zu Gast, in deren Produktionen Menschen mit sogenannten intellektuellen Beeinträchtigungen im Mittelpunkt stehen. Auch Theater Stap beschäftigte sich in "To Belong" mit dem Thema Gemeinschaftlichkeit. Und es war wahrscheinlich der berührendste Moment des insgesamt sehr emotionalen Festivals, als die neun Frauen und Männer in Unterwäsche auf der Bühne standen. Sie zeigten sich – und wir sahen uns. In ihrer, unserer Kraft und Schönheit aber auch in aller Unvollkommenheit, die das Leben für uns alle bereithält.
Diese Szene war genauso mutig und radikal, wie das, was in Lia Rodrigues‘ Inszenierung "For the sky not to fall" zu erfahren war. Denn sie stellte genauso wie das Einander-in-die Augen-sehen von Akteuren und Publikum dort eine tiefe Verbindung zwischen Menschen her und riss so die "Grenzen" zwischen ihnen nieder.
Beides Momente, die man nicht so schnell vergessen wird! Bemerkenswert, dass die geforderte Inklusion auf diese Art erfolgt: Nicht wir ermöglichen (endlich) Zugehörigkeit, sondern die Menschen – hier mit intellektuellen Beeinträchtigungen – lassen uns teilhaben. In diesem Sinne waren die Tanztage auch ein politisches Festival: Lia Rodrigues verlas zudem am Ende ihrer Inszenierung ein Manifest brasilianischer Künstler*innen zur Erhaltung der Demokratie in ihrem Land.
Reine Tanzproduktionen fristeten in diesem Jahr fast ein Nischendasein. Die belgische Gruppe ZOO feierte mit "Inaudible" jedoch eine starke Deutschlandpremiere.
Last but not least: Als Besonderheit des diesjährigen Festivals kristallisierte sich erst vor Ort heraus, wie stark die ästhetisch unterschiedlichen Produktionen miteinander in Resonanz gingen. Dies ist nicht nur der aktuellen Weltlage sondern auch dem zutiefst menschlichen Bedürfnis nach Austausch und Gemeinschaft über Grenzen hinweg geschuldet.
Astrid Priebs-Tröger