All inclusive
Bei den diesjährigen Tanztagen haben die Frauen das Zepter fest in der Hand. Von den zwölf eingeladenen Inszenierungen stammt der Großteil von Choreografinnen, die Themen wie Geschlechterstereotype, Diversität oder Bodypositivity verhandelten.
Die gerade preisgekrönte Ungarin Adrienn Hód zeigte ihre inklusive Performance "Harmonia". Gemeinsam mit der professionellen mixed-abled Tanzkompanie des Theaters Bremen, die seit mehr als zehn Jahren dort existiert, war sie am achten Festivaltag in der fabrik zu Gast.
Dort erwartete die Besucher:innen eine Arena mit Sporthallenatmosphäre. Ein freundlicher junger Mann bewegte sich stehend sehr vorsichtig an einer niedrigen Reckstange, während auf dem kleinen Laptop hinter ihm Ballettelev: innen probten.
Vier Paare in Sportklamotten dehnten sich zumeist auf dem Boden liegend in engen Partnerübungen. Später massieren sie einander oder lockern ihre Muskeln, manchmal laut klatschend. Alles geschieht langsam und mit sehr großer Achtsamkeit füreinander. Ein Rollstuhl steht in einer Ecke.
Nach und nach entdeckt man sichtbare Behinderungen und Körper, die nicht in herkömmliche Körpernormen passen. Doch in deren andauerndem Zusammenwirken spielt dies keine Rolle. Denn diese Trainingspaare scheinen sich sehr gut zu kennen und haben sowohl die eigenen Grenzen als auch die gemeinsamen Möglichkeiten sehr genau erkundet. Und was sie gemeinsam probieren, ist sowohl kraftvoll als auch ästhetisch.
Harmonie bedeutet im Sprachgebrauch sowohl Übereinstimmung als auch Ebenmaß und Zusammenfügung. Im Stück der Bremer Tanzkompanie gelangt dies über mehrere Etappen zur grandiosen Umsetzung.
Im mittleren Teil der ungemein vitalen Performance, als alle nur noch Unterwäsche anhaben und nach den Paaraktionen jetzt vereinzelt auf der Bühne sind, wird beim Zuschauen beinahe schmerzhaft deutlich, wie sehr alle zusammenhängen und einander brauchen. Die Vereinzelung tut niemandem gut und die wunderbaren Synergien, die vorher zu spüren waren, scheinen verloren.
Vollends lebensprall und direkt ins Herz zielend wird "Harmonia", als sich zu fetzigen lateinamerikanischen Rhythmen spontan neue Tanzpaare finden, die gerade aufgrund ihrer Verschiedenheit großartig zusammenpassen, wie der Adonis gleiche schwarze Tänzer und die kleinwüchsige hellhäutige Frau.
Und wie sie immer wieder zeigen, wie wichtig auch Fantasie und Vorstellungskraft sind, um das scheinbar Unmögliche möglich zu machen. Sinnlichkeit und Erotik eingeschlossen. Was in sogenannten inklusiven Projekten respektive in der Gesellschaft immer noch nicht selbstverständlich ist.
Hier war es zu erleben und das Potsdamer Publikum feierte die internationalen Bremer Tänzer:innen Aaron Samuel Davis, Florent Devlesaver, Gabrio Gabrielli, Paulina Porwollik, Leisa Prowd, Tamara Rettenmund, Nora Ronge, Andor Rusu, Young-Won Song und Károly Tóth mit Begeisterungsrufen.
Astrid Priebs-Tröger
Die Arbeit an diesem Artikel wurde "gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien im Programm NEUSTART KULTUR, Hilfsprogramm DIS-TANZEN des Dachverband Tanz Deutschland."