Alle Sinne stärken
Es ist nicht leicht, im Angesicht der derzeitig überall gleichzeitig aufbrechenden Krisen mit Kindern über (ihre) Zukunft zu sprechen. Die Schweizer Choreografin Lea Moro hat diesen Versuch mit "Ohren sehen" beim 3. Explore Dance-Festival unternommen, und er ist gelungen.
Denn Moro hat sehr unterschiedliche Mittel und Wege gefunden, die gegenwärtigen Probleme nicht zu verschweigen, aber gleichzeitig die kindliche Vorstellungskraft – nicht nur für die Zukunft städtischen (Zusammen-)Lebens – zu stärken.
Der abwechslungsreiche Mitmach-Parcours von "Ohren sehen" beginnt im Theaterraum. Hier werden die Grundschüler*innen im vibrierenden Halbdunkel mit einem Erdenwurm bekannt gemacht, der aus dem riesigen dunklen Koloss in der Bühnenmitte kriecht und von dort ins Stadtleben eintaucht.
Kurz darauf treten dann alle Zuschauer*innen in drei Gruppen aufgeteilt und mit Kopfhörern auf den Ohren ins Freie und nähern sich den Elementen Erde, Wasser, Pflanzen, Tiere und Luft rund um die Potsdamer fabrik zuerst sehr handfest, dann auch poetisch und träumerisch und zuletzt tanzend an.
Das trainiert die Sinne und fühlt sich meistens gut und beim Gulli auch ziemlich komisch an. Doch mich als Gärtnerin störte, dass nach dem Wühlen in der aufgeschütteten Erde Samen verteilt wurden, die zur falschen Zeit (zu früh) und am falschen Ort (festgetretener Platz mit Hackschnitzeln) vergraben und bewässert wurden.
So etwas untergräbt das (kindliche) Selbstwirksamkeitsgefühl und vielleicht ist es besser, die Samen mitzugeben, damit sie die Kinder bei sich zuhause aussäen und kontinuierlich pflegen und beobachten können. Dann sehen sie auch den Erfolg ihrer Bemühungen. Und entwickeln daraus vielleicht die Lust, so etwas öfter zu machen.
Wunderbar poetisch und spielerisch zugleich waren hingegen die nächsten Stationen. Der Geschichte von der Wasserquelle und der Schlange mit geschlossenen Augen zu lauschen und dabei ein Seil beständig durch alle Hände gleiten zu lassen, setzte viele Assoziationen frei. Auch die Imagination eines heraufziehenden Sturmes und die Energie von bergender Gemeinschaft stärken die eigene Fantasie.
Zum Ende hin ging es noch einmal konkreter um Entwürfe, die ein Zusammenleben in der Stadt der Zukunft, "die weich und kuschelig und warm – weil wir die Klimaziele nicht erreichen – sein wird" möglich machen sollen. "Freiräume ertanzen", so lautet auch das Motto des diesjährigen Festivals, fühlte sich nach einer Weile gut an und auch die eingesprochenen Texte über Flechten luden zum assoziationsreichen Nachdenken ein.
Schade war nur, dass ganz am Ende, als alle wieder auf der fabrik-Bühne saßen, die Wünsche, Ideen und Vorschläge der Kinder nur auf die Oberfläche des jetzt dort mit Metallfolie imaginierten Wasserbeckens geflüstert werden sollten. Mich hätte schon interessiert, was die Stadtbewohner*innen von morgen selbst über ihre, unsere Zukunft denken. Denn vor allem das einander Zuhören ist eine wichtige Botschaft für heute und morgen, die in "Ohren sehen" allerdings zu einseitig praktiziert wurde.
Zwei weitere Inszenierungen rundeten den ersten Festivaltag. Am Nachmittag konnte man auf der Probebühne des T‑Werks Sisyphus begegnen, der heutzutage vor allem mit Sisyphusarbeit beziehungsweise ‑aufgabe ein geflügeltes Wort für eine ertraglose und schwere Tätigkeit ohne absehbares Ende ist.
Doch schon als das clowneske Trio Ayşe Orhon, Hermann Heisig und Thomas Proksch mit Gymnastik-Ball, Klapp-Leiter und Schaumstoffplatten zur Tür hereintanzt, dabei Zischlaute imitierend einen Rhythmus erzeugt, ist klar, dass der klassische antike Mythos hier eine Umdeutung erfahren würde.
Hermann Heisig erzählt abschnittsweise die Geschichte des antiken Helden, der mehrmals gewieft den Todesgott Thanatos austrickst und schließlich mittels der nicht zu erfüllenden Aufgabe, einen Stein auf einen Berg zu rollen, zum "ewigen Leben" verdammt ist.
Klasse, wie die körperlich sehr unterschiedlichen Akteure dies tänzerisch, musikalisch und auch erzählerisch bewerkstelligen. Und dann schließlich ihre ganz eigene, sehr zeitgemäße Definition von Sisyphusarbeit finden. Die mittels Pausen und der Fähigkeit, Wiederholungen und Scheitern auch spielerisch und leichtsinnig genießen zu können, schließlich doch zum Glücklichsein führen kann.
Die Energie und den Witz von "Happy Sisyphos" werden die Jungen zukünftig mehr denn je gebrauchen können. Und wie sie sich schon gegenwärtig ihre Stadt bewegungstechnisch anverwandeln können, war ab 18 Uhr open Air bei "101 Concrete" von Steven Koglin und Lukas Schapp zu sehen.
Astrid Priebs-Tröger
Die Arbeit an diesem Artikel wurde "gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien im Programm NEUSTART KULTUR, [Hilfsprogramm DIS-TANZEN/ tanz:digital/ DIS-TANZ-START] des Dachverband Tanz Deutschland."