Am Puls Afrikas
Die fabrik vibrierte vom Tanz- und Rhythmusfeuerwerk, das die sechs Urban Dancers von der Pariser Par Terre Dance Company von Anne Nguyen in der Deutschlandpremiere von "Matière(s) Première(s)" entfesselten.
Während zur Eröffnung der Potsdamer Tanztage die originäre Tanzwut noch auf sich warten ließ, spürte man hier vom ersten Moment an, wie essentiell Tanz, Bewegung und Rhythmus bei diesen Performer:innen ist, die allesamt der Urban Dance-Szene entstammen und zum ersten Mal mit der vietnamesisch-französischen Choreografin Anne Nguyen zusammenarbeiteten.
"Barro Dancer", "Mademoiselle Dó", "Willy Kazzama", "Esther", "Salifus" und Grâce Tala haben bisher im urbanen Raum und auf Battles beziehungsweise in youtube-Videos getanzt und die Choreografin hat sie gezielt für "Matière(s) Première(s)", was auf Deutsch Rohstoffe bedeutet, engagiert.
Mit diesem Stück will sie unter anderem zeigen, wie reichhaltig, divers und roh die verschiedenen Tanzsprachen Afrikas sind, wie sie im kurzen Vorgespräch sagte. Die ja stark von den jeweiligen lokalen Tanztraditionen geprägt sind, und die sich ihrerseits hybridisieren, wenn die Tänzer:innen aus unterschiedlichen Ländern Afrikas in Paris ankommen, um dort zu leben.
Und natürlich zu tanzen und sich sowohl untereinander, als auch mit dem westeuropäischen Publikum verständigen müssen. Urbane Tänze finden zwar inzwischen weltweit Anklang, doch wenn man genauer hinschaut, merkt man schnell, wie wenig man eigentlich von deren Ursprüngen und ihrem Eingebettet Sein in soziale Räume und gesellschaftliche Verhältnisse versteht.
Viele Gesten und Bewegungen sind nicht eindeutig zu entschlüsseln beziehungsweise zu übersetzen. Wie beispielsweise Geisteraustreibungen oder auch die Darstellung von Geschlechterrollen. Bei Nguyen tanzen zuerst die Männer mit einer Frauenhand auf dem Kopf und später passiert dies umgekehrt. Und es ist, als müsste man, wenn man sich den wirklich darauf einlassen will, viele neue (Tanz-)Sprachen und Bedeutungen lernen. "Matière(s) Première(s)" schafft nicht nur dafür ein Bewusstsein.
Denn die eurozentristische Haltung zur Welt hat noch immer koloniale Züge und nicht nur wichtige Rohstoffe sondern auch Menschen und ihre Kulturen werden nach Belieben aufgesogen respektive ausgebeutet. Und während die sechs Urban Dancers im Stück zum Ende hin plötzlich paarweise europäisch tanzen, zeigt das einmal mehr, wie einseitig Integration immer noch funktioniert.
Davor aber gibt es quirlige Straßenszenen mit sehr viel Rhythmus und auch Anklängen von Gewalt. Ted Barro Boumba, Dominique Elenga, Mark-Wilfried Kouadio, Jeanne D´Arc Niando, Grăce Tala und Seibany Salif Traore – so ihre ursprünglichen Namen – sind Meister:innen ihres Fachs und von Körper-beherrschung. In den immer wieder aufploppenden Solos können sie ihre tänzerische Individualität zeigen. Die überbordende Energie, die sie ausstrahlen, wurde im Nu vom Festival-Publikum aufgesogen.
Anne Nguyens Beziehung zu Afrika entwickelte sich über mehrere Etappen. 2003 lernte sie die Demokratische Republik Kongo kennen. 2004 und 2008 war sie wieder in Kinshasa, um junge urbane Tänzer auszubilden und ihre Arbeit zu präsentieren. Außerdem beteiligte sie sich an Entwicklungs-initiativen in den Bereichen Kultur und Bildung, sowohl in französischen Arbeitervierteln von Champigny-sur-Marne als auch in Kamaté in Benin.
Die Choreografin war zum ersten Mal bei den Potsdamer Tanztagen zu Gast. So wie sie diese Truppe aus Einzelkämpfer:innen zusammenschweißte, und wie sie modernen urbanen Tanz mit traditionellen afrikanischen Elementen wie z. B. acpella-Gesang verband, kann man nur hoffen, dass sich daraus eine regelmäßige Zusammenarbeit entwickelt.
Astrid Priebs-Tröger
Die Arbeit an diesem Artikel wurde "gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien im Programm NEUSTART KULTUR, Hilfsprogramm DIS-TANZEN des Dachverband Tanz Deutschland."