Aufstehen für die Würde
Milo Raus neuer Film "Das Neue Evangelium" ist dicht dran am Puls unserer überaus krisenhaften Gegenwart.
Seine Jesusgeschichte spielt genauso wie die von Pier Paolo Pasolini (1964) und jene von Mel Gibson (2004) in der italienischen Provinzstadt Matera. Einem Ort, abgeschieden und vergessen im Süden von Italien, mit einer äußeren Anmutung wie das antike Jerusalem und weltberühmt für seine Höhlen. 2019 wurde Matera europäische Kulturhauptstadt.
Materas Umgebung ist indes stark landwirtschaftlich geprägt und auf den Tomatenfeldern und Apfelsinenplantagen schuften vorwiegend illegal Geflüchtete aus Afrika, die rechtlos, ohne ausreichende medizinische Versorgung und ghettoisiert auf ehemaligen verwahrlosten Fabrikgeländen hausen.
Der Schweizer Theaterregisseur Milo Rau sucht genauso wie sein Vorbild Pasolini bei/mit seiner Jesusfigur nach einem sozialen und gesellschaftspolitischen Bezug. Er engagierte dafür den aus Kamerun stammenden Flüchtlingsaktivisten Yvan Sagnet, der 2011 unter den Tomatenpflückern im Süden einen Streik organisierte. Und jetzt ist dieser charismatische Mann der erste schwarze Jesus in der Filmgeschichte.
In Raus Film, in dem die Grenzen von Kunst und Aktivismus fließend sind und der selbst ununterbrochen zwischen Dokumentar- und Spielfilm und Making-of wechselt, begeben wir uns mit Yvan Sagnet auf die Suche nach den Jüngern und den Peinigern von Jesus.
Schon das ist ein wunderbar diverses Kaleidoskop der gegenwärtigen Realität. Rau castet sowohl Laienschauspieler*innen – von den Tomatenfeldern, den Elendsquartieren und aus dem Bürgermeisteramt – als auch professionelle Schauspieler wie Enrique Irazoqui, der bei Pasolini den Jesus spielte oder Maia Morgenstern, die auch bei Mel Gibson die (Mutter) Maria verkörperte.
Die prägnanten, vom Leben gezeichneten Gesichter der Geflüchteten brennen sich ein. Und Raus "Evangelium" berührt immer dann am stärksten, wenn es die überlieferte, poetisch verdichtete Jesusgeschichte mit den realen gegenwärtigen Kämpfen der entrechteten Erntearbeiter nahezu übergangslos miteinander verflechtet. Oder, wenn er einige Protagonisten nahezu beiläufig am Meer ihre reale Fluchtgeschichte erzählen lässt.
Ein Thema, das den Film wie ein roter Faden durchzieht, ist Rassismus. Dieser offenbart sich im Alltag der Geflüchteten, er kommt in einer Demonstrationsszene, in der sich ein Weißer beschwert, dass nur die Migranten reden (dürfen) genauso zum Ausdruck wie in der rassistisch grundierten, perversen Prügelszene, die einer der zu castenden Italiener beinahe genussvoll improvisiert.
Und letztendlich ist es ein ungemein starkes und einprägsames Film-Bild, wenn nur Weiße lauthals erregt fordern, dass zum Passah-Fest "der Schwarze gekreuzigt werden muss". Über die Jesus-Geschichte und die Erzählung der migrantischen Arbeitskämpfe hinaus macht Raus Film auch noch eine weitere Dimension auf.
Die "Revolte der Würde" (Rivolta della dignita), die die afrikanischen Erntearbeiter anzettelten und die ihnen teilweise bessere Lebensbedingungen ermöglichte, zeigt eindrücklich, dass Selbstermächtigung heute nötig und notwendig ist.
Auch hierzulande für die zwar als "systemrelevant" eingestuften aber prekär Beschäftigten in Supermärkten, Altenheimen oder Krankenhäusern und nicht zuletzt für die an den europäischen Grenzen bisher (noch) ausharrenden Geflüchteten. Dieses "Aufstehen für die Würde", auch das impliziert "Das Neue Evangelium", ist von uns Allen und nicht nur von den Betroffenen selbst zu leisten.
Astrid Priebs-Tröger
Der Film kann auf der offiziellen Webseite für einen Beitrag von 9,99 Euro angesehen werden. Ein Drittel des Preises kann man einem Kino seiner Wahl zugute kommen lassen.