Auf dünnem Eis

"Coro­na-Pan­de­mie" ist durch die Gesell­schaft für deut­sche Spra­che gera­de zum (Un-)Wort des Jah­res 2020 gewählt wor­den. Wel­che Viren – bekann­te und unbe­kann­te – die Mensch­heit in naher Zukunft noch erei­len könn­ten, zeigt u. a. der auf­rüt­teln­de Doku­men­tar­film "Ren­tie­re auf dün­nem Eis" von Hen­ry Mix und Boas Schwarz, der jetzt auf arte zu sehen ist. 

Doch zuerst ein­mal zeigt er, wie die noma­di­schen Nen­zen mit dem fort­schrei­ten­den Kli­ma­wan­del und den dar­aus resul­tie­ren­den wär­me­ren Win­tern in Sibi­ri­en zurecht­kom­men müs­sen. Weil der Ob viel spä­ter als frü­her zufriert, gelan­gen sie erst etwa einen Monat spä­ter mit ihren Ren­tie­ren auf die Winterweiden.

Und den Rück­weg müs­sen sie wie auch wil­de Ren­tie­re  – nicht, wie frü­her mit schwan­ge­ren, aber erfah­re­nen Ren­tie­ren – son­dern jetzt mit noch viel zu schwa­chen Jung­tie­ren durch rei­ßen­de Flüs­se zurück­lie­gen. Kein Wun­der, dass sich die Her­den auch dadurch dezimieren.

Man könn­te mei­nen, dass dies regio­nal ein­ge­grenz­te Pro­ble­me sei­en. Doch mit dem Auf­tau­en des sibi­ri­schen Per­ma­fros­tes gerät ein gan­zes Öko­sys­tem ins Rut­schen. Wis­sen­schaft­ler ent­deck­ten gigan­ti­sche Kra­ter, wie den Kes­sel von Bata­g­ai (100 m tief, 1000 m lang), der nach und nach nicht nur Mam­mut- oder Urpfer­de­kno­chen, son­dern auch (urzeit­li­che) Viren und Bak­te­ri­en frei­legt, die in die Stoff­kreis­läu­fe der Gegen­wart gelangen.

Wie bei­spiels­wei­se Milz­brand, der 2016  auf der Jamal-Halb­in­sel aus­brach und dazu führ­te, dass gro­ße Gebie­te ver­seucht wur­den. Doch wäh­rend Milz­brand bekannt und erforscht ist, wis­sen die Wis­sen­schaft­ler viel zu wenig über Viren und Bak­te­ri­en, die vor über 35.000 Jah­ren die Erde, Men­schen und Tie­re besie­del­ten. Und die bis­lang (rela­tiv sicher) im Per­ma­frost ein­ge­schlos­sen waren.

Sta­bi­les Pack­eis ist auch für Eis­bä­ren über­le­bens­wich­tig. Weil die­ses immer spä­ter und zuneh­mend kür­zer zu haben ist, treibt es die Polar-Köni­ge aus Nah­rungs­man­gel in Gebie­te, in denen sie frü­her nie zu fin­den waren, wie zum Bei­spiel in die sibi­ri­sche Indus­trie­stadt Norilsk.

Eine Film­sze­ne, gedreht im Som­mer 2019 zeigt die über­aus gro­tes­ke Situa­ti­on: ein hung­ri­ger Bär taucht mit­ten in der Stadt auf und vie­le Men­schen zücken (ledig­lich) ihre Han­dys. Krass, wie eine jun­ge Frau für ihren Freund dafür vor tris­ter Kulis­se und abge­ma­ger­tem geschwäch­ten Tier posiert – ohne jede Empa­thie oder eine Spur von Verantwortungsgefühl.

Hier wie da bewegt sich die Mensch­heit auf dün­nem Eis – und da die Pro­ble­me immer noch (zu) weit weg erschei­nen, wird zwar zuneh­mend medi­al aber ansons­ten viel zu wenig und viel zu lang­sam dar­auf reagiert. Eher scheint es so, dass die unan­ge­neh­men Wahr­hei­ten wei­ter­hin "erfolg­reich" kol­lek­tiv ver­drängt wer­den. Trotz allen Wis­sens und welt­wei­ter Vernetzung.

Und nicht ein­mal die erd­um­span­nen­de Coro­na-Pan­de­mie scheint dazu geeig­net, län­der­über­grei­fen­des Han­deln gegen die schlimms­ten Aus­wir­kun­gen der Kli­ma­kri­se in Gang zu brin­gen. So dass man gera­de jetzt zu dem depres­siv machen­den Schluss gelan­gen kann, dass sich die Mensch­heit eher ihren eige­nen als den Unter­gang des Kapi­ta­lis­mus vor­stel­len kann.

Astrid Priebs-Trö­ger

"Ren­tie­re auf dün­nem Eis" ist in der arte-Media­thek bis 04.02.2021 zu sehen.

01. Dezember 2020 von Textur-Buero
Kategorien: Allgemein, Film, Ökologie | Schlagwörter: , , , | 1 Kommentar

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