Beseeltes Welttheater
Seit drei Jahrzehnten stehen sie auf den Brettern, die die Welt bedeuten. Dabei haben die Mimen des internationalen Wandertheaters Ton & Kirschen meistens nicht einmal solche unter den Füßen. Weil sie auf Plätzen oder Wiesen open Air auftreten. Mit "The open door", ihrem Jubiläumsstück, waren sie in Potsdam auf der Wiese hinter dem Treffpunkt Freizeit zu Gast.
Und dort haben sie nicht nur sich selbst, sondern auch das Publikum reich beschenkt. "The open door" zeigte einmal mehr ihre großartige Wandlungsfähigkeit, ihre wunderbare Poesie und tiefgründige Philosophie und natürlich ihr beseeltes theatralisches Können in so verschiedenen Genres wie Sprechtheater, Gesang, Tanz, Circus, Magie, Marionettentheater und wildem Jahrmarkttreiben.
Diese grandiose Melange kriegen sie so seit 1992 hin, und die Gründer:innen Margarete Biereye und David Johnston, beide über 70, sind immer noch mit von der Partie. "The open door" beginnt mit einer verschlossenen Tür, an die heftig geklopft wird. David Johnston mit schwarzer Melone und dicker brauner Jacke sowie einem Holzknüppel auf dem Rücken, beeilt sich, sie zu öffnen und ein Ritter aus "Macbeth" springt hindurch.
Kurz darauf wird ein alter gummibereifter Plattenwagen um die Ecke gefahren, auf dem eine schlafende Gestalt liegt. Es ist Josef K. aus Franz Kafkas Roman "Der Prozess". Und die Szenen daraus, in denen sich für den Haupthelden immer mehr Türen schließen, passen erschreckend gut in unsere Gegenwart.
Dann kommen Vogelgezwitscher, Klaviermusik und sogar ein ganzes Orchester auf die Wiese und die bedrückende Szenerie scheint wie weggeblasen. Doch die darauf folgende aus "Die Kinder der Verbannten" von Joseph Roth, die im Wartezimmer einer Behörde spielt, lässt eindringlich das Grauen von Flucht und Holocaust aufscheinen.
Und die Hauptfigur, ein kleines Mädchen mit sehr blassem Gesicht, ist eine lebensgroße hölzerne Marionettenfigur. Noch fünf weitere, u. a. in der Szene aus "Ritter Blaubart", in der die junge Frau die verbotene Tür öffnet, folgen dieser ersten Puppe.
Es ist großartig, wie unterschiedlich sie alle sind, und wie bei einer jungen rennenden Frau das ganze Ensemble beteiligt ist, sie bei ihrem hochfliegenden Lauf zu bewegen. Bei Ton & Kirschen liegen Lieben und Leiden, Leben und Sterben ungeheuer nah beieinander und die Verschmelzung dieser Elemente in ihrer Theaterkunst ist kongenial. Auch Texte von Rilke und Brecht, Lewis Caroll und Garcia Marquez finden so ihren Platz.
Zu dem besonderen Flair trägt auch ihre Mehrsprachigkeit und Musikalität bei, die in dieser Inszenierung u. a. in englischem, italienischem und baskischem Gesang zum Tragen kommt. Schön ist auch, wie die zwei jungen Schauspielerinnen – eine davon ist Margaretes Enkeltochter Zina Méziat – inzwischen ins Ensemble integriert sind, sodass man die Hoffnung auf noch viele weitere Ton & Kirschen-Aufführungen haben kann.
Astrid Priebs-Tröger