Das wirkliche Leben
Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. So ist es auch im Dokumentarfilm „Neben den Gleisen“ von Dieter Schumann. Darin rasen silbergraue ICEs am mecklenburgischen Kleinstadtbahnhof Boizenburg vorbei, der an der stark frequentierten Bahnstrecke Berlin-Hamburg liegt.
Die Geschichte des 10.000-Seelen Ortes reicht bis ins Mittelalter zurück. Zu DDR-Zeiten gaben hier eine Fahrgastschiff-Werft und andere Industriebetriebe den Leuten Lohn und Brot. Jetzt arbeiten die ehemaligen Metallarbeiter in der Gummibärchenfabrik oder im Schlachthof und trauern den alten Zeiten hinterher. Jedenfalls viele von denen, die täglich im "Kiosk am Bahnhof" einkehren.
Nur selten im Fokus des medialen Interesses
Vor allem Männer – und nur wenige Frauen – aller Generationen treffen sich dort. Und beinahe rund um die Uhr haben Bernd Fischer und seine Frau für die großen und kleinen Probleme ihrer Besucher ein offenes Ohr beziehungsweise einen Schnaps. In diesem heimeligen Soziotop hat der Regisseur Dieter Schumann Wochen lang den Leuten zugehört und damit etwas getan, was heutzutage nur noch sehr selten vorkommt. Denn Arbeiter, Alte und ALG II-Bezieher stehen kaum noch im Fokus des medialen Interesses.
Die Kiosk-Besucher erzählen in der zigarettengeschwängerten Kneipe von ihren Alltagssorgen, gescheiterten Liebesbeziehungen, Krankheiten und natürlich auch von ihren Ängsten und Sehnsüchten. Ängste vor den vielen Fremden im Land und der Zukunft Deutschlands gehören genauso dazu, wie die Träume von einer besseren Zukunft für die eigenen Kinder, die der russische Arzt für manuelle Therapie, der jetzt im Schlachthof arbeitet, äußert.
Kioskbesucher werden auf Augenhöhe porträtiert
Er ist genauso wie der Pole Roman Teil dieser Männergemeinschaft und bereichert diese durch seine chiropraktischen Handgriffe, die er liebevoll anwendet, um den einen oder anderen gebeugten Nacken wieder aufzurichten. Auch dies eine Szene, die für den Film und seine Macher einnimmt. Denn schon in den ersten Einstellungen wird deutlich, dass hier einer auf Augenhöhe mit seinen Protagonisten spricht, wirklich etwas erfahren und weder be- noch abwerten will.
Schumann hört den Leuten unvoreingenommen zu und nimmt unterschiedliche – auch politisch unkorrekte – Meinungen auf und ermöglicht es so dem Zuschauer, sich selbst zu positionieren. Sein abendfüllender Dokumentarfilm zeigt differenzierte und empathische Einblicke in das Leben von Menschen, mit denen die meisten von uns im Alltag kaum in Kontakt kommen.
Das wirkliche Leben – Menschen mit Stärken und Schwächen
Höhepunkte sind die Gespräche mit den Jugendlichen, die zum Umfeld dieses "lost place" gehören. Anhand ihrer Biografien wird deutlich, dass auch sie nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen. Doch dem Film gelingt es, sie und die anderen Protagonisten (auch) in ihrer Stärke zu zeigen. Politiker*innen aller Parteien täten gut daran, dem Beispiel des Regisseurs zu folgen und sich selbst ein Bild von ihrem "Wahlvolk" zu machen.
Astrid Priebs-Tröger
"Neben den Gleisen" kommt am 8. April 2017 in die Kinos.