Ein reißender Strom
Wer die Performance "Flökt – A flickering flow" beim 2. Festival "Kunst und Klima" in der fabrik besucht, braucht vor allem eines: Ambiguitätstoleranz. Dies meint die Fähigkeit, mehrdeutige Situationen und widersprüchliche Handlungsweisen zu ertragen.
Sie wird auch als Unsicherheits- oder Ungewissheitstoleranz bezeichnet. In der Performance von Bára Sigfúsdóttir aus Oslo und Tinna Ottesen aus Reykjavik, die in der fabrik ihre Deutschlandpremiere feierte, betritt man im Zwielicht und zwischen dicken Nebelschwaden einen nicht überschaubaren Raum.
Man kann anfangs gerade seine unmittelbaren Nachbar*innen, die wie man selbst barfuß auf dem Boden hocken, ausmachen, alle anderen gar nicht bzw. nur schemenhaft wahrnehmen. Über allem hängt beziehungsweise fließt ein weißer Stoffhimmel. Der sich immer wieder hebt und senkt und unter unheilvoll dräuenden Geräuschen einem von hinten und von der Seite auch körperlich nahe kommt. Man weiß nicht, wo die Reise hingeht, ob man sich in einer Höhle oder einem Schneesturm befindet, ob man die klaustrophobische Nähe noch länger ertragen kann/will und was als nächstes passiert.

Nach einem ersten Blackout öffnet sich ganz allmählich der Raum und man beginnt wahrzunehmen, wo die anderen aus der etwa 25 Mann starken Gruppe sitzen. Zwischen diesen Personen tauchen plötzlich zwei weitere Personen, die nicht zur Zuschauergruppe gehören, auf. Jedenfalls sehe ich diese von meiner Position aus und sie wechseln von nun an wie in Zeitlupe ihre körperlichen Positionen.
Die Performerinnen berühren mit Kopf und Knien einzeln den Boden, verknäulen irgendwann ihre Körper und Gliedmaßen ineinander und landen auch in einer Umarmung; nur auf die Füße kommen sie nicht und alle – inzwischen drei – Performerinnen halten zumeist ihre Augen geschlossen.

Sie scheinen wie wir, die Zuschauer*innen, der mal sirrenden, mal brummenden, auch knackenden Tonspur – live gespielt von Eivind Lønning – und den chaotischen Eigen-Bewegungen der wabernden Stoff-Blase, die alle umgibt, ausgeliefert zu sein. Das ist nichts für jemanden, der unter Stress steht, oder bei dem verschüttete Ängste getriggert werden.
Diese hautnahe, wortlose Performance-Erfahrung, die auch die Themen Vereinzelung und Ausgeliefertsein anspricht, bietet viele unterschiedliche Assoziationsräume. Natürlich auch diesen des gemeinsamen Erdenhauses, das von einer fluiden Atmosphäre umgeben ist. Und sie zeigt, dass wir – als Einzelwesen und als kleine Gruppe ohne Kommunikation untereinander – diesen Naturgewalten, die immer mehr aus dem Rhythmus geraten – ausgeliefert sind. Ein nachhaltiges Gefühl von Ohnmacht.

Einerseits erdet, andererseits verstört dies, denn der Mensch kann sich – entgegen aller Wunsch- und Wahnvorstellungen – die Erde nicht untertan machen, sondern sich nur als Teil dieses großen Ganzen begreifen, welches er nicht (weiter) zerstören sollte.
Und nicht zuletzt: Gemeinsam in kleinen/großen Zelten sitzen, auch wenn der Wind sie tüchtig durchschüttelt, ist allemal besser als allein auf freiem Feld einem eisigen Schneesturm ausgeliefert zu sein.
Astrid Priebs-Tröger
Die Arbeit an diesem Artikel wurde "gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien im Programm NEUSTART KULTUR, [Hilfsprogramm DIS-TANZEN/ tanz:digital/ DIS-TANZ-START] des Dachverband Tanz Deutschland."


